1. Shervin

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"Du bist heute an einem anderen Ort
War nie allein
Aus meinem Herz bist du noch lange nicht fort
Du bist zwar weit weg, weit weg
Doch mein Herz lässt nicht los und hält ein' Teil fest"
Zate - Weit Weg

Es ist die letzte Vorlesung in diesem Modul für dieses Semester und ich kann es nicht so wirklich realisieren, dass ich nun schon ein Semester meines langersehenten Studiums hinter mich gebracht habe – zumindest fast hinter mich gebracht habe.

„Meine Hand tut so weh!", meckere ich meine Freundin voll, was sie zum Lachen bringt. Die ganze Vorlesung über habe ich mitgeschrieben, da unsere Dozentin nichts hochlädt. Die Vorlesung hält sie aus dem Stegreif und ich bewundere ihr Wissen wie verrückt!
Jedes Mal wenn ich aus ihrer Vorlesung rausgehe, habe ich das Gefühl bestärkt zu sein, weil sie genau das tut. Sie bestärkt uns. Auch wenn ich generell gerne in die Vorlesungen gehe -da ich das Gefühl in einem großen Vorlesungssaal zu sitzen und Wissen zu erwerben, liebe- ist ihre Vorlesung meine liebste!

"Diese Frau und ihr Wissen lassen mich immer wieder Staunen wirklich! Sie bringt uns erst die geschichtlichen Umstände nahe und dann bespricht sie den Text, so dass wir auch verstehen, wie und wieso es zu diesen Erziehungsbildern und -stilen kam. Doch dabei wird es nie langweilig. Ich wünschte, alle Profs wären so!"
"Schön wäre es", kommentiert sie meine Aussage, während wir die Treppen des Vorlesungssaals hochsteigen. Wir sind die letzten im Vorlesungssaal, da wir uns in die Mitte der Reihe gesetzt hatten – wieso wir so eine Dummheit getan haben, weiß ich auch nicht. Und dann ist beim Einpacken meiner Sachen auch noch meine Campus Card auf den Boden gefallen, welche ich darauf suchen musste. Doch als ich meinen Blick aufrichte, fällt mir auf, dass wir doch nicht die einzigen sind. In der hintersten Reihe sitzt noch ein junger Mann, den ich zum ersten Mal sehe. Mit seinem Rollstuhl fährt er zur Tür, welche er uns aufhält.

"Danke Shervin", bedankt sich meine Freundin, Lalin, mit einem Lächeln bei ihm, weswegen er ihr kurz zunickt und ich die Gelegenheit ergattere ihn zu mustern. Er hat dunkles Haar, fast schwarz, nur einen Ticken heller. Seine Augen sind braun und haben einen warmen und einladenden Ton, auch wenn sein Blick nicht wirklich so wirkt. Im Gegensatz zu vielen jungen Männern in seinem Alter sind seine schwarzen Augenbrauen nicht gezupft, sie sind sehr dicht und dick, doch ich gestehe mir ein, dass ihm das echt gut steht und ihn sogar ziemlich attraktiv wirken lässt und keineswegs ungepflegt oder desgleichen. Sein Gesicht ist markant und knochig, was jedoch von seinem Vollbart – welches die perfekte Länge hat – verborgen wird. Obwohl er im Rollstuhl sitzt, macht er einen sportlichen Eindruck, seine Schultern sind breit und ich wette, dass wenn er auf den Beinen steht, er ein bisschen größer ist als der Durchschnitt. Auch ich murmele ein Danke, was dafür sorgt, dass seine Blicke sich kurz zu mir drehen und ich schlucken muss. Dass seine warmen braunen Augen nun mich mustern ist...komisch?
Ich weiß nicht wieso, aber ich habe den Eindruck, als ob ich aus ihnen lesen könnte. Und dennoch kann ich es nicht. Auch mir nickt er kurz zu und verschwindet dann aus meinem Blickfeld.

"Studiert er mit uns?", frage ich interessiert, da ich ihn noch nie gesehen habe und diese Situation mich überfordert, wieso auch immer. Lalin nickt zur Bestätigung.
"Ich habe ihn noch nie gesehen", beichte ich ihr. Sie nimmt meine Aussage nicht komisch auf, denn es sind nur wenige Jungs in unserem Studiengang vertreten und da ist es normal, dass man die Jungs kennt, zumindest äußerlich.

"Er kommt immer erst etwas später und geht meist auch als Letzter. Wir haben ein Seminar zusammen, sonst wäre er mir auch fremd." Ich nicke verstehend, doch verstehe um ehrlich zu sein gar nichts. Während sie mir etwas erzählt, laufen wir in die Cafeteria, kaufen uns einen Kaffee und setzen uns hin.

Nach einer halben Stunde verabschieden wir uns voneinander, ich steige in das Auto und fahre los. Doch anstelle wie gewohnt nach Hause zu fahren, merke ich, wie ich den Weg zum Friedhof einschlage. Ein trauriges Lächeln umspielt meine Lippen. Dort angekommen, laufe ich in aller Seelenruhe zu seinem Grabstein. Es ist komisch, denn normalerweise versuche ich den Weg so kurz wie nur möglich zu halten und laufe deswegen immer sehr schnell. Doch heute nicht.
Wieso nicht?, frage ich mich selber, doch finde ich keine Antwort darauf. An seinem Friedhof angekommen, lasse ich mich direkt an seinem Grab nieder und meine Hände umfassen die kalte Erde, was mit einem Mal dafür sorgt, dass der Atem, den ich zu mir nehme, meine Lungen nicht erreicht.

MSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt