11. Mutmaßungen

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"Und es sind meist nur Verlierer auf Gewinner fokussiert.
Doch Gewinner aufs Gewinnen konzentriert."
- Kontra K-Kampfgeist 4

Am nächsten Tag sitzen Shervin und ich an einem der sechs runden Tische. Außer unserem Tisch ist ein weiterer besetzt, die restlichen sind leer. Im Moment. Ich weiß, dass dies sich im Laufe des Vormittags ändern wird.

"Mit welchem Text wollen wir anfangen?", fragt mich Shervin.
"Wie wäre es mit dem?", frage ich auf den komplizierten Text deutend.
"Okay. Wir lesen ihn Abschnitt für Abschnitt -jeder für sich- und besprechen ihn dann?"
"Klingt gut."
Nachdem wir auch ausgemacht haben, bis wohin der erste Abschnitt geht, fangen wir beide an ihn zu lesen.

Seufzend lege ich meinen Stift beiseite und fahre mir durch die Haare.
"Schon müde?", fragt Shervin sich das Grinsen verkneifend.
"Wir sitzen jetzt seit 2,5 Stunden hier und haben diesen Text erst jetzt zu Ende bekommen", meckere ich.
"Dann lass uns mal kurz eine Pause einlegen, bevor du noch den Verstand verlierst."
"Witzig", murmele ich die Augen verdrehend, stehe jedoch auf.
"Was ist? Hast du die Schnauze so voll, dass du schon gehen willst?"
"Ich wollte mir Kaffee holen und dich fragen, ob du auch einen willst. Aber jetzt kriegst du keinen."
Shervin lacht leicht, während ich meinen Geldbeutel rauskrame und mich dann einfach Richtung Cafeteria begebe.

Nachdem ich zwei Kaffees geholt habe, kehre ich wieder an unseren Tisch zurück. Wie vermutet, sind nun die anderen vier Tische auch voll.
"Okay, ich werde heute vorbeikommen, Feryal." Ich kann es nicht verhindern, dass meine Blicke an seine Finger gleiten. Doch sehe ich keinen Ring. Habe nie einen gesehen. Er kann aber eine Freundin haben, das könnte auch der Grund sein, weswegen er mich abgewiesen hat.
"Keine Ahnung, wann ich kommen werde, im Moment bin ich noch in der Uni. Außerdem ist Daphne im Moment im Kindergarten, was für einen Sinn macht es da, dass ich komme?" Meine Augen werden groß, während ich unsere Kaffees auf den Tisch lege. Vielleicht ist er geschieden und hat ein Kind?
"Natürlich, denkst du, ich komme für dich vorbei?" Nun werden meine Augen nur noch größer. Hat er etwa wirklich ein Kind?
Ich höre, wie er lacht, weswegen ich mit einem Mal zu ihm schaue. Denn ich habe ihn bis jetzt noch nie wirklich lachen sehen. Es ist ein schöner Anblick. Ein viel schöner als gedacht. Shervin wirkt mit einem Mal viel jünger. Viel freier und vor allem glücklicher als sonst. Dieser Anblick ist so schön, dass ich verharre.
Sobald sich unsere Blicke kreuzen, schlucke ich hart, setze mich hin und richte meinen Blick auf die Blätter vor mir.
"Ich muss jetzt auflegen. Soll ich Daphne abholen?"
"Mache ich. Ich dich auch." Ich dich auch? Ich liebe dich auch?
Kurz herrscht Stille an unserem Tisch. Mit einem Mal fühle ich mich schlecht, doch habe ich keine Ahnung wieso.
"Danke für den Kaffee."
"Kein Ding", wispere ich und nippe an meiner Tasse.
"Meine Schwester", spricht er, weswegen ich irritiert aufblicke. Er deutet mit seinem Blick auf sein Handy.
"War meine Schwester. Sie will, dass ich heute vorbeikomme, beziehungsweise will meine Nichte das." Damit habe ich nicht gerechnet, weswegen mir kurz die Denkfähigkeit verloren geht.
"Wie alt ist sie? Also deine Nichte."
"Drei."
"Süß", spreche ich mit einem Lächeln. "Das heißt dann wohl, dass du schon immer in der Stadt gewohnt hast?" Er nickt.
"Lebst du alleine?", frage ich neugierig.
"Fast. Meine Eltern haben ein eigenes Haus. Im unteren Stockwerk lebe ich und sie haben das obere Stockwerk und den Dachboden für sich." Ich nicke verstehend, denn mir fällt nichts dazu ein. Schließlich ist es nicht schwer zu erraten, wieso Shervin im unteren Stockwerk wohnt. Mit seinem Rollstuhl wird er nur schwer nach oben kommen.
"Und du?", fragt er nach einem kurzen Zögern. Ich weiß gar nicht, ob er aus Interesse oder Höflichkeit fragt.
"Ich lebe mit meiner Mama", verrate ich ihm also und bereite mich mental auf die nächste Frage vor.
"Wollen wir weitermachen?", fragt er mich dann, weswegen ich nicke und mich erneut den Texten widme.
Kurz hatte ich das Gefühl, dass Shervin mich nach meinem Vater fragen wollte, doch bin ich mir nicht wirklich sicher. Es kann auch meine eigene Erwartungshaltung sein, denn es ist die erste Frage, die folgt, nachdem ich verraten habe, dass ich mit meiner Mama zusammenlebe. Nur mit meiner Mama.
Deswegen kann ich es nicht ausmachen, ob es meine Erwartung war oder er wirklich fragen wollte, jedoch einen Rückzieher gemacht hat.
Da wir es zum Glück geschafft haben den komplizierten Text zu Ende zu exzerpieren, widmen wir uns dem nächsten Text.

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