18. göttliche Warnungen

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"İnsanı insan affedince hürdür.
(Der Mensch ist erst dann frei, wenn andere Menschen ihm verzeihen.)"
Yener Çevik - Senden gizledim

Sobald meine Blicke Shervin im Vorlesungssaal erblicken, atme ich erleichtert tief durch.
Er sitzt am anderen Ende des Vorlesungssaals. Nicht hier bei mir, wo wir normalerweise immer sitzen. Noch auffälliger kann er mir nicht demonstrieren, dass er Distanz will.

Da noch 5 Minuten bis zum Beginn der Vorlesung sind, überlege ich zu Shervin zu gehen, doch verwerfe ich die verlockende Idee schnell wieder, denn ich habe keine Lust auf Drama vor all unseren Kommilitonen.
Ich habe zwar keine Lust auf Drama, doch anscheinend hat jemand anderer Lust darauf.
"War klar, dass Shervin dich wieder fallen lassen wird", spottet Nadine. Ihre Worte sollten mich kalt lassen, meine Ratio warnt mich, doch meine verletzte Seite, meine Emotionen, wollen das nicht über sich ergehen lassen.
"Nerv bitte nicht", kommt es von Lalin, doch steht sie immer noch provokant vor mir.
"Er hat mich nicht fallen lassen, es ist nur eine kleine Beziehungskrise. Du hast also weiterhin keine Chance bei ihm, da hat sich nichts geändert."
Ich sehe, wie ihr Gesicht einen roten Ton annimmt. Eigentlich sind solche Aktionen nicht mein Fall. Andere Menschen in der Öffentlichkeit bloß zu stellen, gehört sich nicht. Doch hat sie ihre Grenzen des Öfteren überschritten und musste nun auf unangenehme Art und Weise zurechtgewiesen werden.
Was Shervin ihr damals gesagt hat, so dass sie sich nicht mehr an ihn rantraut, weiß ich nicht. Er hat es mir nicht erzählt. Um ehrlich zu sein bin ich ihm im Moment auch ziemlich dankbar dafür, denn so wie sie sich eben benommen hat, hätte ich sie mit seinen Worten konfrontiert. Dabei wäre das unter der Gürtellinie gewesen. Nur weil mein Gegenüber sich auf ein ekliges Niveau begibt, muss ich das ja nicht auch tun. Genau das unterscheidet uns Menschen schließlich voneinander.
Während sich die einen nicht schämen gewisse Dinge zu tun oder zu sagen, hüten andere ihre Zunge davor.

Meine Blicke gleiten in dem Moment zu Shervin und ich sehe sein angespannten Kiefer, weil ich ihn mittlerweile auch so gut kenne, weiß ich, dass die Ader an seinem Hals pocht. Er hat unser Gespräch nicht mitbekommen, doch kann er sich den Inhalt vermutlich zusammenreimen und das macht ihn wütend. Seine Wut gilt Nadine, nicht mir. Ich muss zugeben, dass das ein Triumph für mich ist, zwar ein kleiner, aber immerhin einer.
Er soll jedoch merken, in was für eine Situation er mich gebracht hat, weswegen ich ihm wütende Blicke zuschicke. Ich weiß, dass das überaus mutig ist, schließlich habe ich einen Fehler begangen, dem bin ich mir auch bewusst. Und nur weil Shervin dafür gesorgt hat, dass unsere Kommilitonen nun Gesprächsstoff haben, revidiert das meinen Fehler nicht. Dessen Bewusstsein habe ich und dementsprechend werde ich auch handeln. Dennoch kann ich es nicht lassen nach meinem bösen Blick, den ich ihm zuwerfe, meinen Kopf -mit etwas Stolz- von ihm abzuwenden.
Seine Verletztheit und diese Sache sind zwei paar Schuhe, die ich ganz sicher nicht miteinander vermischen werde.

"Was ist zwischen euch los?", fragt mich Lalin nach der Vorlesung.
"Nichts, was sich nicht klären lässt. Ich muss jetzt los, sonst verpasse ich Shervin", verabschiede ich mich von ihr auf die Schnelle und sprinte los, damit Besagter mir nicht entwischt.

"Shervin, du kannst mich nicht meiden", spreche ich mich vor ihm stellend, sobald ich ihn eingeholt habe.
"Geh mir aus dem Weg, Mediha."
"Nein."
Seine Gesichtszüge nehmen einen dunkeln Ton an.
"Dann lass uns das auf dem Parklplatz klären." Eifrig nicke ich.
Stillschweigend begeben wir uns zum Parkplatz und ich muss lachen, denn dieser Ort ist perfekt, um sich laut zu streiten.
"Sag mir jetzt, was du sagen willst, ich muss danach nämlich nach Hause."
Seine Art verletzt mich, doch lasse ich mich davon nicht unterkriegen.
"Du hast kein Recht wütend auf mich zu sein!"
Er blickt höhnisch grinsend in mein Gesicht.
"Ach? Na dann, wenn das so ist, bin ich natürlich nicht wütend auf dich!"
"Shervin-" "-was Shervin, was! Dein Vater ist an MS gestorben, an der Krankheit, die ich auch habe! Ich werde vielleicht auch daran sterben, Mediha, wie dein Vater! Was bezweckst du also?"
Seine Worte lassen meine verkrustete Wunde wieder aufbluten. Es schmerzt so sehr. Es ist unerträglich.
"Hör auf", wispere ich deswegen.
"Du erträgst es nicht mal das zu hören! Wie willst du da einen Schub durchstehen?"
"Es reicht! Okay, es reicht! Ich weiß ganz genau, was mich erwartet. Was auf mich zukommt! Du fragst dich, wieso ich mir das antue? Weil ich dich liebe! Reicht das nicht als Grund? Wenn dir meine Liebe nicht reicht, dann geh!"
Mit einem Mal fängt er an zu lachen und ich mustere ihn irritiert. Da er einfach nicht aufhört zu lachen, verziehen sich meine Brauen wütend. Was ist sein scheiß Problem?
"Wieso lachst du!", blaffe ich entnervt.
"Über den Irrsinn deiner Worte."
"Was ist so irrsinnig daran?"
"Wenn dir meine Liebe nicht reicht, dann geh!", äfft er mir nach, während ich ihm weiterhin verständnislos in die Augen blicke.
"Wie soll deine Liebe nicht reichen, wenn ich dank dir wieder lache? Wie soll sie nicht reichen, wenn du mir wieder Hoffnung gegeben hast? Verdammt Mediha, wie zur Hölle soll sie nicht reichen, wenn du mir einen Grund zum Kämpfen gegeben hast!"
Meine Blicke sind immer noch verständnislos, denn ich verstehe ihn nicht. Verstehe ihn einfach nicht.
"Wo liegt dann das Problem?"
"Vor dir! Genau vor dir! Ich bin es. Meine Krankheit ist es! Ich habe Angst, dass die Dinge, die du durchstehen musst, dir dein Lachen, deine Lebensfreude, rauben werden."
Dieses Mal bin ich diejenige, die lacht. Sobald ich mich beruhigt habe, gehe ich vor Shervin in die Hocke, während meine Hände sich auf die Armlehne seines Rollstuhls legen.
"Steh auf", spricht er gestört von der Situation.
"Wie kannst du nur auf so einen Gedanken kommen, Shervin? Wie kann Liebe mir meine Lebensfreude rauben? Ganz im Gegenteil du gibst mir diese Freude. Siehst du nicht, wie glücklich ich neben dir bin?"
"Es ändert nichts daran, dass meine Krank-" "-hör auf! Hör ein einziges Mal auf! Ich weiß, was auf mich zukommt, okay? Ich habe kein Problem damit, ich komme damit klar. Lass mich einfach nur bei dir sein, dir beistehen."
Auf meine Worte wird er ruhiger und legt seine Hand auf meine Wange.
"Genau das macht mir Angst. Du weißt, was auf dich zukommt, weißt, wie unerträglich das ist. Was ist, wenn du in die Vergangenheit katapultiert wirst und all das verdammt schmerzhaft für dich wird?"
Mit einem Lächeln schmiege ich meinen Kopf in seine große Hand.
"Du wirst doch da sein. Um meinen Schmerz zu stillen, wirst du da sein. Das Schicksal hat unsere Wege nicht umsonst gekreuzt, daran glaube ich ganz fest."
"Daran zweifele ich keine Minute. Aber ich habe das Gefühl, dass du mir mehr gibst, als ich dir jemals geben könnte."
Auf seine Worte fange ich an laut zu lachen.
"Das ist so schwachsinnig! Du hast ja sowas von keine Ahnung, wie viel du mir gibst."
"Ich liebe deinen Sturkopf."
"Das weiß ich."
"Deine selbstsichere Art liebe ich noch mehr."
"Auch das weiß ich." Shervin lacht und ich sehe ihm glücklich dabei zu und merke, dass ich alles dafür tun würde, damit er lacht. Denn es fühlt sich so an, als ob die Sonne in meiner Welt aufgeht. Er verdrängt jeglichen Schmerz und jegliche Art von schlechten Dingen mit seinem Lachen. Allein sein Lachen würde ausreichen, damit ich mich in ihn verliebe. Denn ich weiß, dass er es nur den aller wenigsten zeigt und das ich einer dieser Menschen bin, ist genauso wertvoll wie das unbeschwerte Lachen meiner Mutter.

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