36. Ebbe und Flut

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"Büyük denizlere açıl demiyorum, lakin bir kez açılmışsan tufandan korkma.
(Ich sage nicht, dass du dich in die Weiten des Meeres trauen sollst, doch hast du dich schon einmal auf den Weg gemacht, dann darfst du keine Angst vor der Flut haben.)"

- Şirazlı Sadi

Ich laufe aus dem Krankenhauszinmer, um eine Krankenschwester ausfindig zu machen.
Shervins Verhalten macht mir Angst, es prophezeit mir Dinge, die ich nicht erleben will.
Nachdem ich die Krankenschwester benachrichtigt habe und sie mir gesagt hat, dass sie gleich einen Arzt kontaktieren wird, laufe ich erneut zu Shervin.
"Hast du Hunger?", frage ich ihn. Vermutlich ist diese Frage, in dieser Situation absurd, aber ich will Normalität.
Sein Blick ist leer.
"Du solltest zur Uni gehen", ist das Einzige, was er sagt.
"Ich will aber hier bleiben. Bei dir."
"Ich will dich aber nicht bei mir haben." Seine Stimme ist kalt und erbarmungslos. Hart schlucke ich.
"Shervin-", ich will auf ihn einreden, doch scheint all das sich mit einem Mal falsch anzufühlen.
Seine ausdruckslosen Augen mustern mich, danach wendet er seinen Blick von mir ab. Er wendet sich von mir ab. Schnell laufe ich zu ihm, setze mich an den Bettrand und greife nach seiner rechten Hand, auf welcher ich einen Kuss absetze.
"Wir haben uns ein Versprechen gegeben. In guten und schweren Zeiten", erinnere ich ihn.
"Es wird nur schwere und schlechte Zeiten für dich geben. Nichts anderes. Denn das hier ist meine Realität."
"Das hier ist unsere Prüfung, die wir gemeinsam meistern werden."
"Hör auf damit, Mediha. Ich will, dass du gehst."
Meine rechte Hand streicht immer wieder seine rechte Hand und mein Herz fleht inständig um Heilung.
"Ich werde dich nicht alleine lassen, niemals."
"Aber ich will dich nicht bei mir haben!"
Er spricht diese Worte nicht aus, um mich zu verletzen, sondern um sich selbst zu bestrafen.
Seine Gnadenlosigkeit richtet sich gegen sich selbst.
Er entzieht mir auch seine Hand, in dem er seinen Arm zurückzieht. So wie es scheint, ist vor allem sein Unterarm und seine Hand betroffen, da er die Kontrolle über seinen Oberarm hat.
"Du wirst dich nicht selber durch meine Abwesenheit bestrafen, das lasse ich nicht zu. Ob du willst oder nicht, ich bleibe, Shervin. Finde dich so schnell wie nur möglich mit diesem Gedanken ab."
Ich sehe, wie sein Mundwinkel ganz leicht in die Höhe zuckt, es ist eine Bewegung, die nicht in seiner Hand liegt, eine Bewegung aus einer Emotion heraus. Dankbarkeit, Liebe, Bewunderung, all das und viel mehr spiegelt sich kurz in seinen Augen wider, bis er einen Vorhang zieht und mir somit den Zugang zu seine innere Welt verwehrt.

Als die Krankenschwester mit einem Arzt kommt, sieht dieser sich erst Shervins Akte an und sagt der Krankenschwester dann, dass sie ihm eine Kurzinfusion mit Kortison anlegen sollen. Je nachdem wie sich seine Symptome entwickeln würden, würde er weitere 2-4 Tage Kortison über die Kurzinfusion bekommen. Doch nach dem fünften Tag sollten die Symptome besser werden, falls nicht, muss er 10-14 tagelang Kortisontabletten einnehmen. Wenn danach immer noch keine Besserung auftritt, kriegt er erneut für fünf Tage eine Kortisoninfusion. Und wenn auch das nicht wirkt, dann kriegt er eine Blutwäsche. Ich hoffe und bete inständig, dass uns all das erspart bleibt. Nicht weil ich nicht die Kraft und Ausdauer habe, das zu tragen, sondern weil ich Angst davor habe, was das mit Shervin machen wird. Was das mit unserer Ehe machen wird. Mit seiner Haltung mir gegenüber.

Nach seiner Infusion wird er entlassen, doch herrscht weiterhin eine angespannte Atmosphäre zwischen und und ich weiß, dass das so leicht nicht nachlassen wird.

Selbst nach dem fünften Tag dauert die Bewegungsunfähigkeit in Shervins Arm an, das sorgt immer wieder für Reibereien zwischen uns, mal abgesehen davon, dass kalte Luft herrscht.
Er ist für mich kaum noch erreichbar, während ich mir wie verrückt Sorgen um ihn mache. Ich habe verdammtes Glück, dass seine Eltern und meine Mutter mir in dieser Zeit beistehen. Vor allem der Beistand seiner Mutter ist goldwert.

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