5. Arschloch! Oder doch nicht?

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"Sei gütig, denn alle Menschen, denen du begegnest, kämpfen einen schweren Kampf. Und wenn man erkennen will, wie Menschen sind, braucht man nichts weiter zu tun als hinzusehen."

Da ich eine Nachricht von Afras Mutter bekommen hatte, habe ich ihr versprochen heute vorbeizuschauen.
Herzlich werde ich von ihrer Mutter empfangen, welcher ich die Blumen und die Merci-Packung übergebe. Bevor wir ein Gespräch anfangen können, fällt mir Majid, Afras jüngerer Bruder, in die Arme.
"Ich habe dich so vermisst, Mediha!", teilt mir der 13-Jährige mit und bringt mich zum Lachen.
"Ich dich auch", entgegne ich ihm, einen Kuss auf die Haare gebend.
Danach werde ich in die Arme von Afras Vater gezogen.
"Meine schöne Tochter", spricht er innig und sorgt dafür, dass sich meine Tränen direkt anstauen, weswegen mein Griff um ihn stärker wird. Ich habe dieser Familie einfach so unfassbar viel zu verdanken. Wenn ich heute stark bin, dann nur weil sie eine riesige Unterstützung seit Tag eins waren.

"Wie geht es dir?", fragt er in meine Augen schauend, nachdem wir uns von der Umarmung gelöst haben. Die Gespräche mit ihm sind so wertvoll, denn er schaut einem dabei immer tief in die Augen und versucht den Gemütszustand seines Gegenübers festzustellen.
"Gut", spreche ich mit einem ehrlichen Lächeln aus. Er schaut mir nach meiner Antwort drei weitere Sekunden in die Augen. Versucht herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage und nickt dann mit einem zufriedenen Lächeln. Viel zu oft habe ich mit einer tiefen Trauer dieses Haus betreten, deswegen kann ich seine Sorge nur zu gut nachvollziehen und verstehen.

Afras Mutter bittet uns an den Tisch, weswegen wir dem nachkommen und unser Gespräch dort fortführen.
"Das ist unfair, dass du zu Afra gehst und ich nicht mitkommen kann!", meckert Majid gegen Ende des Essens.
"Ich werde dich das nächste Mal mitnehmen."
"Versprochen?", fragt er mich mit großen Augen.
"Versprochen", grinse ich ihn an und weiß, dass ich dieses Versprechen sobald wie nur möglich einhalten muss, denn egal wie umgänglich Majid ist, sobald man ihm etwas versprochen hat, kann er zur größten Nervensäge werden, bis man das Versprechen einlöst.
"Vermisst du Afra auch so sehr wie ich?", werde ich dann von dem 13-jährigen Jungen gefragt.
"Ja", seufze ich.
"Seit dem sie weg ist, spiele ich so selten Fifa." Auf diese Worte müssen seine Eltern und ich laut lachen.
"Gib doch einfach mir Bescheid, dann komme ich vorbei und wir spielen gemeinsam."
"Wirklich?" Ich nicke.
"Ich kanns nicht so gut wie deine Schwester, aber damit musst du dann wohl leben."
"Egal, ich bring dir das dann bei." Auf seine Worte muss ich erneut lachen.

Nachdem ich Afras Mutter beim Aufräumen des Tisches geholfen habe, sitzen wir zusammen im Wohnzimmer.
"Wieso ist deine Mutter eigentlich nicht mitgekommen?", fragt sie mich.
"Sie hatte einer Freundin für heute versprochen, habe ich ganz vergessen euch mitzuteilen. Sie hat sich aber für die Einladung bedankt und sich für ihr Fehlen entschuldigt."

Eine weitere Stunde vergeht und mein Herz erfüllt sich mit Freude, während ich die friedliche Atmosphäre mit der Familie genieße. Eine gute halbe Stunde der Zeit verbringe ich vor allem mit Majid -wir spielen Fifa-, die restliche halbe Stunde sitzen wir beisammen und unterhalten uns.

Wie gesagt, verdanke ich dieser Familie einfach zu viel. Afra ist die Schwester, die ich nie hatte. Majid, der kleine süße nervige Bruder, den ich mir immer gewünscht habe. Afras Mutter ist wie meine leibliche Tante, zu der ich jederzeit gehen kann, wenn etwas ist. Und Afras Vater ist mein Vaterersatz. Nie hat er mir ein anderes Gefühl gegeben.

Afras Mutter verschwindet in der Küche, weil sie Afra und mir für das Wochenende Essen einpacken will. So wie es scheint, hat sie den heutigen Tag komplett in der Küche verbracht und wir werden über das Wochenende gut essen.
Ihr Vater reicht mir einen Briefumschlag, es ist nicht schwer zu erraten, was drin ist.
"Gib das Afra", bittet er mich.
"Mache ich, sie wird aber über dich schimpfen."
"Kann sie gerne tun. Hauptsache sie nimmt es an und das wird sie müssen, weil du es ihr übergibst."
"Schlauer Plan", lache ich.
Er reicht mir einen zweiten Briefumschlag, weswegen ich ihn fragend anschaue.
"Das ist für dich."
"Das kann ich nicht annehmen."
"Du musst aber."
Ich will etwas erwidern, doch kommt er mir zuvor.
"Jetzt kriegt ihr noch Geld von uns, in ein paar Jahren werden wir den Spieß umdrehen, dann müsst ihr für uns bezahlen. Also nimm das an, je mehr Geld ich dir zustecke umso mehr kann ich von dir verlangen." Auf seine Worte muss ich lachen und nehme den Briefumschlag widerwillig an, denn ich weiß, egal wie sehr ich mich wehre, er wird es mir zustecken, das läuft seit Jahren so.
"Sollen wir dich fahren?", fragt mich Afras Vater, als er sieht, wie viel seine Frau eingepackt hat. Dabei ist es eine Ausrede, um mich zu fahren, da ich das meistens nicht zulasse.
"Ich bin mit dem Auto da, aber danke." Nachdem ich alle zum Abschied umarmt habe, sieht Majid mich zusammengezogenen Augenbrauen an.
"Was ist?"
"Vergiss dein Versprechen nicht!"
"Wie könnte ich nur", spreche ich lachend und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

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