13. Gezeiten

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"Do not set yourself on fire just to keep other people warm."

Während der vorlesungsfreien Zeit haben Shervin und ich keinen Kontakt zueinander. Wir haben kurz nach unserer mündlichen Klausur die Lage bei dem jeweils anderen abgecheckt, aber dabei ist es auch geblieben. Anfangs hat es einige Male in meinen Fingern gekribbelt, so dass ich mich immer wieder selbst dabei ertappt habe, wie ich auf unserem Chatverlauf war und meine Finger fast angefangen hätten zu tippen. Doch das vergeht schnell, denn ich muss drei Hausarbeiten schreiben. Ganze drei. Da hat das ‚Vergessen Sie nicht den Sommer zu genießen' meiner Dozenten nur provokant gewirkt.
>Was machst du?<, tippe ich Afra eine kurze Nachricht, da sie im Moment in der Stadt ist und ich nach zwei Hausarbeiten k.o. bin. Wenn ich nun nicht etwas Zeit mit meiner besten Freundin verbringe, verliere ich eindeutig den Verstand.
>Habe auf eine Nachricht von dir gewartet<, antwortet sie mit einem lachenden Smiley.
>Wir geben echt ein süßes Paar ab!<
>Ich fände du und Shervin wärt ein süßeres Paar.<
>Lasse ich unkommentiert. Ich nehme an, du hast Zeit?<
>Für dich doch immer!<
>Dann bis in einer Stunde<, tippe ich ein, gehe dann auch direkt offline, da ich noch duschen will, bevor wir uns treffen.

Eine Stunde später sitzen Afra und ich in unserem Lieblingscafé. Es ist ein kleines gemütliches Café im Vintage-Stil, mit einem Hauch von Rustikalem. Der Kaffee und die Kuchen sind nahezu perfekt und störend laute Musik im Hintergrund gibt es nicht, so dass man sich ungestört unterhalten kann. Hinzu kommt, dass hier kaum Jugendliche sind, so dass sich niemand in einer störenden Lautstärke unterhält.
"Ihr habt nicht nochmal miteinander geschrieben oder?", fragt mich Afra, nachdem wir uns eine Weile etwas über die Uni und die zurückliegenden Klausuren unterhalten haben.
"Nein, ich wollte auch nicht schreiben und aufdringlich wirken." Sie nickt verstehend.
"Ich bin echt gespannt, wohin das mit euch führen wird."
"Meiner Meinung nach wird es nicht mehr als nur eine Freundschaft." Afra hebt ihre Braue kritisch in die Höhe.
"Glaubst du das wirklich oder versuchst du dir das einzureden, um dir selbst nicht unnötige Hoffnungen zu machen?"
Seufzend lege ich die Tasse auf den Holztisch zwischen uns ab.
"Er hat mir ein Kompliment gemacht, ja. Ich glaube auch, dass es ernst gemeint war, er ist nicht der Typ Mann, der jeder Frau ein Kompliment macht, davon bin ich überzeugt. Aber es sind jetzt fast zwei Monate vergangen und er hat mir nicht geschrieben. Er muss mich ja nicht um ein Treffen fragen, aber er macht sich auch nicht die Mühe, um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen. Wenn ich jetzt anfange zu hoffen, dann wird mich das Kopf und Kragen kosten, das spüre ich. Deswegen belasse ich es dabei, Afra. Solange ich kein eindeutiges Signal von ihm bekomme, werde ich nichts in seine Worte oder in sein Verhalten hineininterpretieren. Es fühlt sich wie die Gezeiten an, doch für sowas habe ich keine Kraft und Zeit. Entweder entscheidet er sich oder ich werde Distanz zwischen uns legen." Afra legt ihre Hand auf meine, um mir Kraft zu spenden.
"Mach das. Du musst an aller erster Stelle schauen, dass es dir selbst gut geht. Du kannst dich selbst nicht außen vorlassen, um jemand anderem gut zu tun."
"Das sollte niemand tun, das ist keine gesunde Basis für die Liebe."
"Seit wann ist die Liebe überhaupt etwas gesundes?" Auf diese Worte lachen wir beide. Wahre Liebe hat eine gesunde Basis, Afra und ich wissen das. Das eigentliche Problem ist, dass die heutigen Beziehungen nicht auf dieser Basis aufgebaut werden und sich somit das Konzept der Liebe, zu lieben, ungesund anfühlt. Es ist ein Jammer, denn eigentlich ist die Liebe das heiligste Gefühl überhaupt, sollte es zumindest sein. Aber damit zwei Menschen diese gesunde Basis erreichen können, müssen sie sich selbst erst finden und sich selbst wertschätzen und annehmen lernen. Das nicht vortäuschen, sondern es wirklich tun. Denn nur dann schafft man es sein Gegenüber auch so anzunehmen, wie er ist. Man versucht ihn nicht zu formen, begreift, dass man mit einem Menschen, den man erst zu dem ‚Richtigen' formen muss, keine Beziehung eingeht, eingehen darf und kann, weil das keine gesunde Basis ist. Für beide Seiten nicht.

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