"Der Wert einer Kultur lässt sich danach bemessen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht."
-Kurt Tucholsky"Mediha warte kurz", ruft mir Shervin hinterher, während ich wütend den Seminarraum verlasse. Im Moment hasse ich die Uni und meinen Dozenten. Doch am meisten meine Kommilitonen.
Erst als ich an meinem Unterarm berührt werde, bleibe ich abrupt stehen.
"Hey, reg dich nicht so sehr über seine Worte auf. Unser Referat war gut, egal was er sagt."
"Es ist so verdammt unfair, die beiden haben nichts gemacht, gar nichts! Haben höchstens 20 Seiten gelesen und wir über 100! Trotzdem haben sie das ganze Lob geerntet, während er mit unserer Arbeit unzufrieden war. Keiner der Texte hat uns etwas gebracht, hat geklärt, was gutes Spiel für Kinder ist und dennoch hat er von uns die Antwort darauf erwartet. Der eine Text hat das komplette Gegenteil von dem anderen behauptet, was erwartet er da von uns?"
Kurz hält er inne, blickt mir dabei in die Augen. Es ist nun viel einfacher ihm in die Augen zu blicken, denn sie haben an Kälte verloren. Es ist nicht so, dass ich behaupten könnte, dass ich in seine Seele blicke, doch sehe ich die Emotion, die er empfindet nun genauer. Kann sie benennen.
Im Moment ist es Ärger, doch versucht er seine Wut zu zügeln und mich zu beruhigen und das macht diesen Augenblick besonders. Egal wie wütend ich bin, meine Wut ist so kurz davor zu verpuffen.
"Hat es gut getan deinen ganzen Ärger rauszulassen?", fragt er mich dann mit einem leichten Lächeln.
"Etwas", antworte ich durch meine Haare fahrend.
"Würde Kaffee dir dabei mehr helfen?"
Nun blicke ich fragend zu ihm, denn ich verstehe nicht, wie er auf so eine Idee kommt.
"Immer wenn du Kaffee trinkst, strahlst du Ruhe aus, man merkt, dass du es genießt, deswegen", erklärt er sich.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es schmeichelt mir, dass ihm etwas so Kleines über mich aufgefallen ist, dass er sich das gemerkt hat. Doch sehe ich, wie Shervin nun seine Mauer wieder anbaut.
"Kaffee würde mir dabei helfen, ja. Aber ich will dich nicht aufhalten."
"Das passt schon." Die Art, die er wieder aufgesetzt hat, sorgt dafür, dass ich ihm am liebsten sagen würde, dass er sich verpissen kann. Als ob ich ihn dazu gezwungen hätte mit mir einen Kaffee zu trinken und er keine Wahl hat, außer anzunehmen. Doch weiß ich, dass ich so eine Gelegenheit vermutlich nicht all zu schnell erneut bekommen werde, deswegen kann ich sie mir nicht entgehen lassen.
Also fange ich an Richtung Cafeteria zu laufen.
Shervin besteht darauf uns die Kaffees zu holen, weswegen ich nicht darauf beharre und ihn machen lasse.Schweigsam sitzen wir uns gegenüber, während ich an meinem Kaffee nippe. Doch ich will nicht schweigen.
"Wieso steckst du das so gut weg?", frage ich die erstbeste Frage, die mir einfällt. Ob sie nun wirklich die beste Frage ist, darüber lässt sich streiten.
Doch zucken Shervins Mundwinkel leicht in die Höhe, also kann die Frage gar nicht so falsch sein.
"Ich habe mein Temperament besser im Griff", grinst er mich fast schon an.
Bitte was? Mein Kopf spielt verrückt, ich will kontern, doch wirft mich sein Grinsen komplett aus der Bahn. Es ist so schön und steht ihm so gut, wie sonst keinem Menschen vermutlich. Es ist ein Verbrechen, dass er es so selten tut. Oder der Grund, wieso er es so selten tut.
Doch zum Glück schafft es mein Gehirn in die Realität.
"Ist klar", entgegne ich augenrollend. Er lacht leise und das ist der Punkt, wo ich meinen Verstand komplett verliere. Zumindest gefühlt.
Ich will diesen Moment einfangen, ihn festhalten. Ihn immer wieder abspielen können, sobald ich die Lust dazu verspüre. Also 24/7?, fragt meine innere Stimme, die ich ohrfeigen würde. Einmal am Tag würde schließlich auch reichen."Die Dozenten sehen nur das Ergebnis, nicht die Arbeit dahinter. Deswegen sind seine Worte in meinen Augen unbedeutend, Mediha. Wir wissen beide, wie viel Arbeit und Mühe hinter unserem Referat steckt, alles andere ist deswegen egal", spricht er ernst nach seinem leichten Gelächter. Doch kann ich mich nicht wirklich auf seine Worte konzentrieren, denn 1. frage ich mich, wie schön es klingen muss, wenn er laut lacht. Laut und von Herzen, ohne etwas verbergen zu wollen. 2. bringt es mich immer wieder aus der Bahn, wenn er meinen Namen ausspricht. Jeder Mensch spricht ein und denselben Namen auf eine ganz spezielle Art und Weise aus. Auf seine eigene Art und Weise. Deswegen klingt ein und derselbe Name aus dem Mund eines jeden Menschen ganz anders. So auch mein Name. Doch ich merke, dass ich schwach werde, wenn Shervin ihn ausspricht. Ich würde viel dafür hergeben. Dass er ihn so oft wie nur möglich ausspricht.
"Du hast Recht", sage ich nickend, dabei habe ich nicht die leiseste Ahnung, was er mir eben erzählt hat.
"Nimm dir das deswegen nicht zu sehr zu Herzen."
'Was denn?', will ich fragen, doch fällt mir da ein, dass es um unser Referat und vor allem um das Feedback, was wir bekommen haben, ging.
"Ja schon. Nur habe ich, also meine Gruppe und ich, auch schon bei einem anderen Referat ein schlechtes Feedback bekommen. Dabei hat uns da die Dozentin nicht mal Literatur bereitgestellt, wir sollten alles selber machen und da war ich auch diejenige, die mehr gemacht hat, die Absprache war miserabel, sowas ärgert mich dann."
"Ist verständlich. Egal wie freiwillig wir alle hier zum Studieren sitzen, nicht jeder hat dieselbe Motivation und dieselben Beweggründe. Deswegen ist es einigen -wie dir- wichtiger als anderen."
"Und dir? Wie sieht es mit dir aus? Immerhin hast du eine abgeschlossene Berufsausbildung und bist auf das Studium nicht wirklich angewiesen."
Erneut wird sein Gesicht durch ein leichtes Lächeln geziert.
"Das stimmt. Dennoch ist meine Motivation auch so hoch wie deine. Es ist mir wichtig, liegt mir am Herzen. Ich will meinen Beruf nämlich nicht mehr ausüben."
"Warum?", frage ich abrupt, "-also wenn ich fragen darf", ergänze ich dann, um nicht erneut vor den Kopf gestoßen zu werden.
"Ich habe zwar ständig Kontakt zu Menschen, doch spielt dabei das Geld immer die wichtigste Rolle. Das Geld und die Probleme, die es bringt. Aufgrund dessen geht das Zwischenmenschliche verloren. Ich sitze am längeren Hebel, weil ich derjenige bin, der entscheidet, ob mein Gegenüber das Geld kriegt oder nicht. Jetzt kannst du dir vermutlich vorstellen, wie die Menschen sich gegenüber mir benehmen. Jeder versucht sich von seiner besten Seite zu zeigen, unwissend dass sie genau das unmenschlich macht. All das will ich nicht mehr. Ich will mit Menschen zu tun haben um ihretwillen, nicht um des Geldes willen."
All das was ich über Shervin höre, lässt mein Herz schneller schlagen. Das Bild, was ich von ihm habe, ändert sich mit einem Mal fast komplett und das ist gerade zu beängstigend.
Es herrscht Stille, denn ich brauche kurz Zeit, um die Informationen zu verarbeiten, abgesehen davon muss ich meine Begeisterung irgendwie in den Griff kriegen.
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MS
Romance"Die größte Blockade ist im Denken und Fühlen der Menschen verankert." Diese Worte würden mich prägen wie sonst keine, doch ihr Ausmaß hätte ich mir niemals erdenken können. Offizieller Start: 27.05.2019/2020 Offizielles Ende: noch laufend