01. Samir's Freundschaft

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"Har içinde biten gonca güle minnet eylemem."

Ich bin mir bewusst, dass ich mich ihr gegenüber immer wie das Letzte benehme. Zu jemandem werde, der ich nicht bin. Dass ich mich jedes Mal noch mehr dafür hasse, doch es auch nicht ändern kann, denn... Denn ich merke, wie groß ihr Interesse an meiner Person ist, dass es ihr nicht nur darum geht zu erfahren, wieso ich in diesem Rollstuhl sitze. Ihr geht es um viel mehr. Ihr geht es um mich. Und das ist ein Risiko, dass ich nicht eingehen kann, darf. Es gibt genug Menschen um mich, die leiden werden, wenn ich gehe, da darf nicht noch ein Mensch hinzukommen, vor allem nicht jemand wie Mediha.

Seufzend speichere ich alles ab und klappe dann meinen Laptop zu. Das wars dann wohl für heute, mehr ist nicht drin. Denn mein heutiges Benehmen gibt mir keine Ruhe. Sie hat sicher ein schlechtes Bild von mir. Besser so. Dann hört ihr Interesse an meiner Persönlichkeit endlich auf.

Während ich mich in die Richtung unserer Teilbibliothek bewege, erblicke ich sie und muss inne halten. Lächelnd hält sie einer Gruppe die Tür auf und flötet ein ‚Bitteschön', nachdem sie sich bei ihr bedankt haben. Sofort schleicht sich ein Lächeln um meine Lippen.
Hat dieses Mädchen eigentlich immer gute Laune?

Als ich das letzte Buch zurücklegen will, seufze ich tief. Natürlich ich habe vergessen, dass es weiter oben ist und ich dafür aufstehen muss. Es ist unnötig, dass ich mir diese Qual antue, ich sollte das Buch einfach auf die Buchklappe tun, welche sich immer seitlich an den Regalen befinden, dennoch tue ich es nicht. Also greife ich nach meinen Krücken und stelle mich mit Mühe auf meine Beine. Ich spüre die Kraftlosigkeit in ihnen und kann nicht anders als einen Moment lang wütend zu sein. Es ist ein demütigendes Gefühl. Um mich nicht noch mehr in meine Gedanken zu verfangen, schaue ich nach den Initialen und merke, dass es das oberste Regal ist. Also nehme ich das Buch in meine rechte Hand, versuche dabei mein ganzes Gewicht auf mein linkes Bein zu verlagern, doch merke schnell, dass ich in meinem Vorhaben erbärmlich scheitern werde. Denn in dem Zustand scheint es unmöglich an das Regal ranzukommen. Ich weiß, dass es Schwachsinn ist, mich jedes Mal viel zu viel Mühe kostet, dennoch kann ich es nicht sein lassen. Aufgrund der Situation kann ich mir ein leises Gefluche nicht verkneifen.
"Kann ich?", höre ich im selben Moment eine sanfte Stimme fragen und bevor ich etwas erwidern kann, wird mir das Buch auch schon aus der Hand gezogen, während Finger, die kleiner als meine eigenen sind, meine Fingerkuppen berühren. Erst in dem Moment realisiere ich, dass Mediha neben mir steht und beobachte sie dabei, wie sie auf die Stehleiter steigt und mit ihren Fingern die Signaturen nachfährt.
"Zwei Bücher weiter", spreche ich, um ihr dabei behilflich zu sein und nach einem leichten Nicken legt sie das Buch an den richtigen Platz.

Sie steigt die Stehleiter hinunter und schaut mir direkt in die Augen, weil sie ihren Kopf zu mir hoch gerichtet hat. Ihre Augen flackern, ich weiß nicht genau, was ich in ihnen sehe, doch es sind mehr Emotionen in ihnen sichtbar, als es sein sollte.
"Danke", spreche ich deswegen ohne jegliche Emotionen. Sie soll nichts Falsches denken.
"Bitte", spricht sie ebenfalls emotionslos, zumindest ist ihr Ton emotionslos, dasselbe würde ich aber nicht über ihren Blick sagen.
Eine Weile sehen wir uns noch in die Augen, ich versuche zu verstehen, was sie so reizt, was sie fühlt, wenn sie mich anblickt, warum ihre Augen so viele Emotionen verbergen, doch werde ich nicht schlau aus der Sache. Also hebe ich meine Braue in die Höhe und lass mich dann in meinen Rollstuhl fallen. Das hat wehgetan. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kehre ich ihr den Rücken zu.

Als ich vor Samirs Wohnung ankomme, klingele ich und bin froh, dass er Zuhause ist. Es ist unkompliziert für mich in seine Wohnung zu kommen, da das Gebäude einen Aufzug hat. Ich weiß, dass mein bester Freund bei seiner Wohnungssuche damals extra darauf geachtet hat. Auch wenn wir nie darüber gesprochen haben.
Meine Dankbarkeit ihm gegenüber ist so groß, dass ich sie nicht in Worte fassen kann.

"Okay, was ist geschehen?", fragt er mich, nachdem wir uns eine ganze Weile angeschwiegen haben und unsere Kaffeetassen fast leer sind.
"Es war keine gute Idee zu studieren."
"Wenn du mir erzählen willst, dass du überfordert bist, dann fresse ich einen Besen."
"Nur um das sehen zu wollen, würde ich dir das sogar erzählen."
"Ich frage dich nochmal; was ist geschehen? Hat sich jemand dumm geäußert?" Ich kann mir ein Gelächter nicht verkneifen.
"Damit komme ich mittlerweile klar, mach dir darüber mal keine Sorgen."
"Was war dann?"
"Ich war in der Bibliothek und wollte ein Buch zurücklegen, dessen Platz ganz oben auf dem Regal ist. Bin nicht drangekommen, dann hat mir eine Kommilitonin dabei geholfen."
"Das war's?"
"Was soll sonst sein?"
"Nichts. Scheint nicht nur eine Kommilitonin zu sein."
"Spar dir deine Sprüche, Samir."
"Ganz ehrlich Shervin, wenn es nur das gewesen wäre, dann wärst du nicht hier aufgetaucht. Also erzähl mir mehr von ihr. Es war vermutlich nicht eure erste Begegnung."
Grob erzähle ich ihm von Mediha, von den Begegnungen mit ihr und davon, wie ich sie behandelt habe. Vor allem von der Aktion, die ich mir heute in der Bibliothek mit Nadine gegenüber ihr geleistet habe. Während dem wird mir bewusst, dass ich zum ersten Mal über sie erzähle.
"Bruder, mir fehlen die Worte. Wenn mich jemand so behandelt hätte, hätte ich ihm nicht mal geholfen, auch wenn er mich darum gebeten hätte und sie tut es ohne darum gebeten zu werden."
"Danke Samir, genau das wollte ich hören."
"Irgendjemand muss dir sagen, dass du dich daneben benimmst."
Ich schenke ihm einen leeren Blick.
"Wo drückt der Schuh?", fragt er mich dann eine Weile später.
"Nirgends, es ist alles gut."
"Wie lange willst du dich noch selber belügen?"
"Wie lange willst du noch meinen Psychologen spielen?"
"Du weißt, dass dasselbe nicht nochmal passieren muss oder?"
"Das würde ich niemals zulassen."
Samir grinst. "Da drückt der Schuh also. Deswegen benimmst du dich wie das letzte Stück Dreck, damit sie sich von dir fernhält."
"Danke für den Kaffee", spreche ich und setze mich von seinem Sofa wieder in mein Rollstuhl.
"Mal schauen, wie lange du noch dafür flüchten wirst. Irgendwann wird dich das Ganze sicher einholen."
"Gute Nacht Bruder", spreche ich und verlasse seine Wohnung.

Ein kleiner Einblick in Shervins Welt.
Die wörtliche Übersetzung des Zitats: Eine im Feuer blühende Rose will ich nicht.
Es ist ein Sinnbild und meint, dass man nicht nach etwas Streben soll, was aussichtslos ist.
Hoffentlich hattet ihr viel Spaß beim Lesen meine lieben Zuckermenschen!❤

Eure Verâ

MSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt