17. Missverständnisse und ungewollte Beichten - Teil II

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"Don't hurt what God sent to heal you."

Als es klingelt, grinst meine Mutter mich an.
"Jetzt darf ich ihn auch endlich kennenlernen", spricht sie voller Euphorie, während ich grinsend zur Tür laufe. Aus unserem Telefonat vor einer Stunde habe ich raushören können, dass Shervin leicht aufgeregt ist.
"Herzlich Willkommen", empfange ich ihn, nachdem ich die Tür geöffnet habe. Unter seiner Jacke erkenne ich ein hellblaues Hemd, welches er mit einer schwarzen Hose kombiniert hat. Seine Haare sind auch ordentlicher als bei unserem Date. Das zeigt mir, dass er den richtigen Eindruck bei meiner Mutter hinterlassen will und das wiederum zeigt mir, wie wichtig ich ihm bin. Wie wichtig das zwischen uns für ihn ist.
Nachdem er auch von meiner Mutter begrüßt wird, reicht er ihr eine kleine Geschenktüte, in der ich Pralinen und Blumen ausmachen kann.
Mit seinen Krücken betritt er das Haus und dieses Mal bringe ich es nicht über mein Herz innerlich mit ihm zu schimpfen, denn er will auf selber Augenhöhe mit uns sein. Meiner Mutter beweisen, dass ich in guten Händen bin. Dass er mir würdig ist. Auch wenn ich seinen Gedankengang verstehen kann, hasse ich es, dass er so über sich selbst denkt.

Erst als wir am Tisch sitzen, ist die Situation etwas entspannter. Shervins Bedenken sind nicht mehr zum Greifen nah und das beruhigt mich.
Je später der Abend wird, umso besser versteht sich Shervin mit meiner Mutter, was ich eher im Stillen mit einer riesigen Freude beobachte.

Während ich in der Küche bin, um die Nachspeise zu holen, zeigt meine Mutter Shervin Kindheitsbilder von mir und erzählt peinliche Geschichten. Shervin wird mich noch lange damit aufziehen, doch nehme ich das gerne auf mich, da es ein Thema ist, was ihn zum Lachen bringt. Solange Shervin lacht, ich ihn dabei beobachte und sogar der Grund dafür bin, kann ich davon absehen, dass das Thema -worüber gelacht wird- zu meinem Nachteil ist.

"Das ist Medihas Vater", höre ich die Stimme meiner Mutter, was dafür sorgt, dass das Blut in meinen Adern gefriert, denn ich weiß, dass dieser Abend nun in einer Katastrophe enden wird. Hoffe, dass es kein Verlust wird.
Ich will ins Wohnzimmer rennen und irgendwie von dem Thema ablenken, doch keiner meiner Gliedmaßen will sich bewegen. Mein Körper ist versteift, ich kann nichts dagegen tun, absolut gar nichts.
"Wie lange saß er im Rollstuhl?", höre ich Shervins Stimme. Doch anstelle seinen Worten hallt der Ton in meinen Ohren. Der Argwohn schneidet mir die Luft zum Atmen ab.
"Fast drei Jahre, bis er dann querschnittsgelähmt wurde. Wir dachten, dass es noch länger dauern wird, aber es ging dann doch kürzer als gedacht, bis dahin sind die Verschlechterungen immer nur ganz langsam abgelaufen."
Kurz herrscht Stille.
"Primär progrediente MS?", es ist eine Frage, die auf eine Bestätigung wartet. Eine Bestätigung, die mich Kopf und Kragen kosten wird.
"Leider ja, es ist die seltenste Form von MS und da sie nicht in Schüben verläuft, bringen die üblichen Medikamente nichts, da diese die Entstehung neuer Symptome verhindern sollen. Es gibt immer noch keine Medikamente, die den Verlust von Nervenfasern aufhalten können."
Erst jetzt schaffe ich es mich aus meiner Starre zu befreien, doch wollen mich meine Beine nicht in das Wohnzimmer tragen. Ich habe Angst vor Shervins Reaktion. Vor meiner Mutter wird er kein einziges böses Wort verlieren, dafür ist er viel zu respektvoll. Es sind aber auch nicht seine Worte, vor denen ich Angst habe, sondern seine Blicke, die mir mehr erzählen werden, als seine Worte es je tun könnten.

Dennoch schaffe ich es irgendwie mich ins Wohnzimmer zu schleppen, bevor ich es wirklich betreten habe, trifft mich sein Blick, so als ob er mich erwartet hätte.
Die Wirkung seines Blickes will ich runterschlucken, doch verknotet sie sich in meinem Hals und schneidet mir den Sauerstoffzufuhr ab. Ich ersticke an seinem Blick. Sein Blick erstickt mich. Gnadenlos.
"Wo bleiben unsere Nachspeisen?", fragt meine Mutter, die immer noch nichts ahnt.
"Ich-", fange ich an, komme jedoch nicht weiter, weil sich Shervin auch schon erhebt.
"Ich sollte jetzt gehen. Danke für den Abend, es war schön Sie kennenzulernen." Meine Mutter will etwas erwidern, doch merkt sie in dem Moment die Anspannung im Raum. Ihre Blicke sind erst fragend, doch kurz darauf geht ihr ein Licht auf und ich sehe, wie auch sie hart schluckt.
Sie will etwas sagen, doch fehlen selbst ihr die Worte. Also bewegen wir uns alle still schweigend zur Tür.
"Ich erwarte dich nochmal", spricht meine Mutter mit Nachdruck, als sie ihn verabschiedet, während ich in meine Schuhe schlüpfe um ihm hinterherlaufen zu können.

An seinem Auto angekommen, dreht er sich endlich zu mir.
"Danke für den Abend. Ich sage dann meiner Schwester das Treffen für nächste Woche ab."
"Shervin-" "-ich bitte dich, hör auf."
Die Gnadenlosigkeit in seiner Stimme und die Kälte in seinem Blick fühlen sich schlimmer an als eine Ohrfeige.
Er nimmt mir damit alles. Vor allem aber auch die Hoffnung, den Mut um weiterzumachen.

Erst als eine Tür hart zugemacht wird, komme ich zu mir und bemerke, dass Shervin schon in seinem Wagen sitzt. Das was folgt, sind quietschende Reifen und eine tiefe Leere in meinem Herzen.

"Mediha, es tut mir leid, ich wusste nicht, dass du es ihm noch nicht gesagt hast", die Reue aus der Stimme meiner Mutter ist nicht zu überhören.
"Es ist nicht deine Schuld, ich hätte es ihm sagen müssen, Mama. Ich gehe schlafen", selbst die zwei Sätze auszusprechen ist eine riesen Qual.
Die Nacht werde ich nicht schlafen können, das liegt auf der Hand. Doch so kann ich sie nutzen, um mir die Worte richtig zusammenzulegen.

Mit allem habe ich gestern Nacht gerechnet, doch nicht damit. Ich habe es mir verboten darüber nachzudenken, doch genau das holt mich nun ein. Shervin taucht in der Uni nicht auf und auch meine Nachrichten lässt er unbeantwortet. Die Ersten hat er gelesen, die letzten jedoch nicht.
Da ich zu meinem Pech auch nicht weiß, wo er wohnt, kann ich nicht vor seiner Tür auftauchen und ihn zur Rechenschaft ziehen. Ihm zeigen, was er mit mir macht.
Wir werden uns also frühestens am Freitag sehen, falls er zur Vorlesung auftaucht.
Innerlich fluche ich über diese Situation. Ich will, dass er auch mich versteht.

"Er geht auch nicht an meine Anrufe ran", erzähle ich Afra am Abend am Telefon.
"Es ist einfach so lächerlich. Bis vor 2 Tagen war noch alles super. Ich bin auf Wolken geschwebt und jetzt fühlt es sich so an, als ob ich in die tiefste Ecke der Hölle gefallen wäre."
Afra seufzt tief: "Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun. Soll ich mir für Morgen ein Ticket buchen, um bei dir zu sein?"
Das ist das erste Mal nach dem gestrigen Abend, wo ich lächeln muss.
"Afra, du weißt, wie unglaublich wertvoll diese Geste für mich ist. Du bist mir auch von dort eine große Stütze, glaub mir. Auch wenn du kommen würdest, es gibt im Moment nicht viel zu tun."
Meine beste Freundin ist kurz still: "Okay, aber dann schreib mir oder ruf am besten an, wenn irgendwas sein sollte. Ich bin für dich da, vergiss das bitte nicht."
"Wie könnte ich das nur vergessen?"
Nach dem Telefonat mit Afra geht es mir schon etwas besser. Es hat gut getan meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen ohne jedes Wort überdenken zu müssen. Denn Afra würde meine Worte niemals gegen mich verwenden. Das ist eine Eigenschaft, die man heute kaum noch findet, umso wertvoller macht das Afra.

Am Donnerstag sind meine Gedanken ruhiger. Mein Verständnis für Shervin ist größer, auch wenn meine Enttäuschung nicht verschwinden will.
Aber ich habe begriffen, dass das sich Abkapseln Shervins Schutzmechanismus ist, Auch wenn mir bewusst ist, dass er gute Gründe dafür hat, tut es mir dennoch weh, dass er sich mir gegenüber abkapselt. Doch weiß ich, dass es keinen Sinn macht an seinem Schutzmechanismus zu rütteln und ihn dafür zu verurteilen, denn er hat gute Gründe um so zu handeln, wie er es tut.
Deswegen versuche ich mir klar zu machen, dass ich ihm das niemals an den Kopf werfen darf.
Ganz im Gegensatz muss ich versuchen ihm zu vermitteln, dass er seinen Schutzmechanismus mir gegenüber nicht ausfahren muss, dass ich ihm nicht schaden will und werde. All das braucht Zeit, er braucht Zeit und vor allem braucht seine verletzte Seite Zeit, das weiß ich. Dass es nicht leicht wird, ist mir auch bewusst. Und dennoch lohnt es sich. Es lohnt sich immer um einen Menschen zu kämpfen, der einen liebt.
Deswegen werde ich nicht aufgeben, egal wie schwer es für mich wird.
Dennoch hoffe ich inständig, dass er morgen zur Uni kommen wird, denn das Wochenende halte ich nicht aus, ohne dabei den Verstand zu verlieren.

Hoffentlich hattet ihr viel Spaß beim Lesen meine lieben Zuckermenschen!❤
Ich hoffe, dass es nächste Woche wieder in gewohnter Länge weitergeht.

Eure Verâ

MSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt