35. Fieberwahn

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"Verluste sind Teil unseres Lebens...
Das, was wir sind, sind wir durch alles, was wir verloren haben, und dadurch, wie wir mit diesen Verlusten umgegangen sind."
- Jorge Bucay


"Wieso ist dein Vater in der Schweiz gestorben?", fragt mich Shervin etwas irritiert.
"Weil dort die Hilfe zur Selbsttötung nicht verboten ist", spreche ich die Worte aus, die ein müdes Lächeln auf meinen Lippen hinterlassen.
Ich sehe, wie er hart schluckt.
"Du meinst das ernst?" Ich nicke.
"Zu uns meinte er, er will Abwechslung, in die Berge und die frische Luft dort einatmen. Wir dachten, dass es ihm nun psychisch besser geht. Er sich langsam mit der Situation abfindet, denn auch seine Aggression hatte etwas nachgelassen. Haben ihm dann den Vorschlag gemacht, dass wir nach Österreich könnten, weil das auch näher und günstiger ist. Er hat es strikt verneint und betont, dass er in die Schweiz will." Ich atme tief durch.
"In Österreich wird die Mitwirkung am Suizid mit einer Freiheitsstrafe bestraft. In Deutschland ist sie eigentlich auch straflos, dennoch ist es hier etwas komplizierter. Man kann wegen unterlassener Hilfeleistung bis hin zu Totschlag wegen Unterlassung oder Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz angezeigt werden, je nachdem was eben genau vorliegt. Und in der Schweiz ist es eben straffrei, solange kein 'egoistisches Motiv' vorliegt."
Kurz herrscht Stille.
"Wie-", setzt Shervin an, bricht jedoch ab. Es ist aber nicht schwer zu erraten, wie der Rest der Frage lauten soll.
"Morphium. Etwas davon wirkt beruhigend, schmerzlindernd, zu viel davon kostet dich dein Leben. In den letzten Monaten hatte er Morphium verschrieben bekommen, weil er zu starke Schmerzen hatte. Das ständige Rumliegen hat dafür gesorgt und irgendwann gewöhnt sich nun mal der Körper auch an die stärksten Schmerzmittel, so dass selbst diese nicht mehr richtig wirken."
Erneut halte ich inne, ich weiß nicht, warum mir diese Erzählung so schwer fällt. Wobei doch eigentlich schon, denn ich habe nie darüber gesprochen und es nun laut auszusprechen, macht mir bewusst, was mein Vater wirklich getan hat. Er hat sich einfach das Leben genommen. Einfach so.
"Der Arzt hat ihm einfach das Morphium da gelassen. Einfach so. Er fand es schlimm meinem Vater beim Leiden zu zusehen, dass er Frau und Kind hinter sich lässt, hat er nicht mitbeachtet. Vermutlich dachte er sich, dass er uns auch damit einen Gefallen tut." Ein verächtliches Lächeln ziert meine Lippen.
"Dass ich meinen Vater gebraucht hätte, war ihm anscheinend egal, auch meinem Vater war das egal. Dabei hat es mir gereicht, zu wissen, dass er atmet, allein das hat mir schon Kraft gegeben. Doch das war sowohl dem Arzt als auch meinem Vater egal."
Dieses Mal verlässt ein verächtliches Lachen meine Lippen, während eine Träne meine Wange runterläuft.
Shervin wischt die Träne weg und zieht mich im nächsten Moment an seine Brust, wo ich anfange schluchzend zu weinen. Es ist erschreckend, wie schmerzvoll die Dinge, die Jahre zurückliegen mit einem Mal sind. Nie hätte ich mir erträumen können, dass ich bei dieser Erzählung wie ein kleines Kind heulen würde. Doch genau das tue ich nun. So verrückt es auch ist, doch es fühlt sich so richtig an. Denn jahrelang habe ich erzählt, dass mein Vater an seiner Krankheit gestorben ist. Habe mich selber daran glauben lassen, habe es wirklich selbst geglaubt. Es war einfacher, als mit einzugestehen, dass er bereit war sich uns zu entreißen. Dass er diesen Kampf einfach aufgegeben hat, auch wenn ich mir natürlich bewusst bin, dass es nicht einfach war. Dass es alles andere als einfach war.

"Mediha", spricht Shervin behutsam, seine Güte lässt mein Herz erzittern. Ich schmiege mich enger an ihn, bin ihm so verdammt dankbar, dass er so behutsam mit mir umgeht. Dass er Güte, Barmherzigkeit und Liebe in seinem Herzen trägt, trotz all der schlimmen Erlebnisse in seinem Leben und bin ihm so unfassbar dankbar, dass er all diese Gefühle mit mir teilt, sich nicht verschließt.
"Mir geht es gut", spreche ich mir über die Augen wischend.
"In deinem Zustand ist das natürlich sehr überzeugend", kommentiert er mir auf die Nase tippend, die sicherlich gerötet ist.
Über seine Worte lache ich leicht, doch richte ich meinen Blick danach direkt in seine Augen.
"Mir geht es gut, weil du da bist. Weil du mir die Gefühle entgegenbringst, die mir mit seinem Tod entrissen wurden. Nein, du gibst mir sogar viel mehr."
Tief atmend lehnt er seine Stirn an meine.
"Was soll ich dann sagen?", haucht er und lässt nicht nur meine Augen sondern auch mein Herz erstrahlen.

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