09. Schutzengel

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"When I look at Fatima, all my worries and sadness disappeares."
- Imam Ali (as)

"Wie stehst du eigentlich dazu, wenn ein verheirateter Mann mit seinen Freunden Urlaub macht?", fragt Samir Mediha.
Meine Ehefrau ist schlau genug, um zu verstehen, was Samir sie eigentlich fragen will.
Sie legt ihre Arme auf den Tisch und lässt ihre Blicke zwischen uns hin und hergleiten.
"Wohin soll's gehen?", kommt es von ihr.
"Zandvoort."
"Niederlande?"
"Ja, ist direkt an der Nordsee", erkläre ich ihr.
Mediha dreht sich zu Samir.
"Wie kommst du darauf, dass ich ein Problem damit hätte?"
Grinsend sehe ich zu Samir. Mediha wird ihm die Hölle heiß machen, weil er sie falsch eingeschätzt hat.
"Weiß nicht", entgegnet dieser unbeholfen.
"Es gibt keinen Grund um einen Aufstand deswegen zu machen. Ich vertraue meinem Ehemann blind. Außerdem ist das etwas, was ihr jedes Jahr gemeinsam macht, wenn ich das richtig verstanden habe. Wisst ihr schon, wie ihr da hinkommt?"
"Vermutlich mit dem Auto, das ist am günstigsten", antworte ich meiner Ehefrau.
Mediha nickt und ich sehe, wie sie in ihrem Kopf etwas abwägt.
"Darf ich euch um etwas bitten?"
"Klar", kommt es von Samir wie aus der Pistole geschossen. Ich grinse amüsiert, er hat eine Höllenangst, dass Mediha uns einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Seit Jahren fahren Samir und ich über das verlängerte Osterwochenende weg. Nie haben wir uns darüber Gedanken gemacht, dass es auch Mal anders sein könnte.
"Ich weiß noch nicht, ob Afra in dem Zeitraum kann, aber wäre es okay für euch, wenn wir mitfahren würden. Ihr würdet dann zu zweit Zeit verbringen und wir zu zweit."
"Klar, gar kein Thema", hastet Samir ihr bei. Mediha's Blicke drehen sich fragend zu mir.
"Es ist absolut kein Problem." Ich weiß, wie nötig Afra diesen Urlaub hat, doch hat meine Ehefrau ihn mindestens genauso nötig. Ich will, dass es ihr gut geht, dass sie entspannen kann, bevor wir uns in das nächste Semester stürzen. Sie soll den ganzen Stress hinter sich lassen.

Wir unterhalten uns noch etwas, bis Mediha aufsteht und anfängt den Tisch abzudecken. Samir und ich stehen ebenfalls auf, um ihr zu helfen.
"Macht es euch gemütlich, ich mache das schon."
Doch hören wir nicht auf ihre Worte und helfen ihr alles in die Küche zu tragen. Dort verjagt sie uns dann jedoch aus dem Zimmer.

Während ich mich mit Samir unterhalte, betritt Mediha nach einer Weile wieder das Wohnzimmer, sie hat auf einem Tablett zwei Tassen Tee und Knabberzeug vorbereitet.
"Setz dich doch zu uns", bietet ihr Samir an, doch schüttelt sie ihren Kopf.
"Ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag und will einfach nur noch schlafen", sobald sie ausgesprochen hat, muss sie auch schon gähnen.
"Euch noch eine gute Nacht. Samir, bleibst du da? Dann lege ich dir noch Bettzeug raus."
"Nein danke. Ich hab's ja nicht weit."
Meine Ehefrau nickt und läuft erneut aus dem Wohnzimmer raus.
Samir greift nach seinem Teeglas: "Du weißt nicht, wie sehr ich mich für dich freue. Es hätte niemanden besseren als Mediha geben können. Niemand hätte dich so sehr lieben und wertschätzen können, wie sie es tut. Sie hat dich wieder zum Leben erweckt. Ich bin ihr so dankbar dafür."
Auf die Worte meines besten Freundes, meines Bruders, verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln.
"Sie ist nicht von dieser Welt", dieser Satz sagt so viel aus. Denn Mediha hat eine Güte und Geduld in sich, die mich das öfters denken lässt. Manchmal denke ich, dass sie ein Engel ist. Mein Schutzengel. Mein persönlicher Schutzengel, der mich vor allem Schlechten beschützt, der meiner Seele und meinem Herzen Balsam ist. Es ist unfassbar, wie sehr sich mein Herz mit Frieden füllt, sobald ich sie sehe.

Als ich mich von meiner Gedankenwelt löse, merke ich, wie Samir in Gedanken ist. In Gedanken an etwas, was ihn quält.
"Willst du mir erzählen, was los ist?"
Verzweifelt fährt sich mein Bruder über das Gesicht.
"Ich war heute meine Mama besuchen, als mein Vater auf der Arbeit war."
Ich schlucke hart, dieses Thema wird Samir nicht loslassen, bis er seinen Eltern die Wahrheit erzählt.
"Samir", setze ich an.
"Ich weiß, was du sagen wirst Shervin. Du hast Recht, wenn ich mit der Sprache rausrücken würde, würde alles anders werden. Aber was spielt das denn für eine Rolle? Warum können sie nicht einfach hinter mir stehen? Egal was sie denken, egal wie die Situation für sie aussieht. Warum können sie nicht hinter ihrem Sohn stehen? Ist das so schwer? Warum kann mein Vater nicht seinen Stolz beiseite lassen? Warum ist es so wichtig, was die Leute denken und sagen? Warum ist es ihm scheiß egal, was ich fühle? Wie es mir geht? Ich lebe jetzt seit 4 Jahren auf Familienentzug. Es schert ihn nicht einen Dreck. Er ist immer noch  so überzeugt davon, dass ich ihn und seinen Namen in den Dreck gezogen habe.  Warum ist das so wichtig?"
Tief atme ich durch, denn ich weiß auf all diese Fragen keine Antwort. Bis heute verstehe ich nicht, wie sein Vater ihn einfach so abschreiben konnte, wie er davon ausgehen kann, dass Samir derjenige war, der einen Fehler begangen hatte. Wie er so schlecht über seinen eigenen Sohn denken konnte.
Zig Mal hatte mein Vater versucht mit ihm zu reden, versucht ihm klarzumachen, dass er seinen eigenen Sohn nicht abschreiben konnte. Doch Samir's Vater war ein engstirniger und gnadenloser Mann, welcher kein Verständnis für seinen Sohn aufbringen wollte.
"Wie war die Zeit mit deiner Mutter?"
"So gut, dass ich sie mindestens für das kommende halbe Jahr nicht mehr sehen will", die Ironie trieft aus seinen Worten, seiner Haltung, aus jeder Faser seines Daseins.
"Sie wollte erneut eine Verkupplungsaktion starten. Sie checkt es einfach nicht. Sie ist doch meine Mutter Shervin. Sie muss doch sehen, wie tief meine Wunde ist, dass diese immer noch blutet. Und dann steht sie vor mir und fragt mich allen ernstes, was mit mir nicht stimmt."
Samir steht auf und fängt an durch das Wohnzimmer zu laufen, fällt danach in Gelächter. Kein echtes Gelächter. Eins, was verdeutlicht, dass er am Ende mit seinen Nerven ist.
Ich begebe mich ebenfalls auf meine Beine und laufe mit meinen Krücken zu ihm, um ihm dann in den Arm zu nehmen, da ich weiß, dass er das nötig hat. Er hat es nötig zu spüren, dass es jemanden gibt, der immer ein offenes Ohr für ihn hat, der für ihn da ist, der hinter ihm steht, komme, was wolle.
"Egal was ist, egal was passiert, ich bin hier, Bruder. Bei dir. Vergiss das nicht", spreche ich zu ihm.

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