Kapitel 23.1 - Nach dem Frost

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Nach dem Frost ☬

Normalerweise kommt nach dem Winter der Frühling, aber Kain spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut nicht. Um ehrlich zu sein, fühlte er gar nichts. Weder den Wind, der durch seine Haare pfiff, noch Zuriels Hände, die ihn hoch über der Meeresoberfläche trugen. Der Gedanke an Alice Tod schickte ihm unsichtbare Tränen in die Augen. Er wollte weinen, aber die Trauer war so groß, so gewaltig, dass sie seine Emotionen verschlag. Kain fühlte sich gefesselt und kein Wort konnte ausdrucken, wie er sich fühlte.

Auch Zuriel hatte geschwiegen. Die Krähe nahm es ihm nicht übel. Er wollte nicht über das Geschehene reden. Er konnte nicht über das Geschehene reden. Ein schwarzes Loch saß in seinem Herzen. Zur Beruhigung rief er sich ins Gedächtnis, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte, aber stimmte das tatsächlich? Selbst wenn sie den Leviathan gemeinsam überstanden hätten, wäre Alice verschwunden. Als Ambigua-Seele konnte sie nicht außerhalb des Reichs der Engel überleben. Das Ende stimmte ihn traurig, aber es war nicht die Art von Trauer und Verzweiflung, die er hinter Gittern verspürt hatte. Es war etwas Gewaltigeres. Etwas, dass mit einfachen Tränen keinen Ausdruck bekam.

Kain wusste nicht, wie lange es her war, dass die Konturen des Leviathans am Horizont verschwunden waren. Obwohl Zuriel geschwächt war, hatte er seine letzten Kräfte gesammelt und eisern durchgehalten. Aber inzwischen schien er seine Grenzen überschritten zu haben. Stück für Stück verloren sie an Höhe, während der Halbengel versuchte einen Absturz zu vermeiden. Aufgebracht schlug er mit den Flügel, wodurch ihr Flug unsanft und wackelig wurde.

»Kain«, brachte Zuriel schwer atmend hervor. Es benötigte zwei Sekunden, bevor er seinen Satz beenden konnte. »Ich kann nicht mehr. Es ist nur eine Frage der Zeit... bis die Flügel verschwinden.«

Noch während Zuriel sprach verfestigte sich Kains Griff, mit dem er sich an seine Handgelenke klammerte. Anschließend legte er seinen Kopf in den Nacken und sah zu dem Schmied. Sein Gesicht war hochrot und der Schweiß tropfte von seiner Stirn. Auch wenn die warmen Sonnenstrahlen seine Kleidung getrocknet hatten, war sein Haar nass und klebte an seiner Haut. Deutlich stachen die Adern an seinem Hals hervor.

»Ist in Ordnung.« Die Krähe richtete seinen Blick wieder nach vorne. Zuriel hatte bereits zu viel getan. Wenn er sein Limit erreicht hatte, würde er ihm keine Vorwürfe machen. In dem Fall würde er ihn eigenhändig an die Küste Inidos bringen. Ihm war es egal, wie unmöglich dieser Gedankengang schien. Eine Niederlage stand außer Frage. »Lass dich einfach fallen. Ich werde den Rest übernehmen.«

Zuriel gluckste, doch das Geräusch verschwamm mit der Schwere seines Atems. »Mach dich nicht lächerlich. Selbst wenn wir Inido bereits sehen würden, würdest du es nicht schaffen.«

Die Augen des Auftragsmörders verengten sich. Die Sonnenstrahlen reflektierten das Wasser unangenehm, sodass er keine Möglichkeit zu erkennen hatte, wie weit sie sich von der Küste entfernt befanden. Dennoch glaubte er etwas in dem Meer aus Glitzer zu erkennen. Erst war es nur ein Punkt, eine verschwommene Silhouette, aber bevor Kains Füße die Meeresoberfläche streiften, wurde aus der schwarzen Gestalt die klaren Umrisse eines Schiffs.

Obwohl sich Zuriels Flügel gänzlich auflösten und sich der Halbengel beinahe regungslos an ihn klammerte, durchflutete ihn Erleichterung. Ausnahmsweise hatten sie Glück. Dieses Schiff war ihre Rettung. Sie mussten die Mannschaft nur auf sie aufmerksam machen. Selbst wenn es sich um Freibeuter handelte, könnte er sie mit einer geschickten Lüge um den Finger wickeln. Sie waren gerettet. Endlich war Inido zum Greifen nah.

Mit kräftigen Bewegungen hielt Kain sich über Wasser, während er behutsam auf Zuriels Sicherheit achtete. In der Ferne wurde das Schiff immer größer und schon bald erschienen Mäste und Segel, die sich mit Wind füllten und das Gefährt langsam in ihre Richtung trieben. Sofort erhob Kain die Stimme und brüllte den Ausruf nach Hilfe über jede Welle hinweg. Parallel winkte er mit der freien Hand, die Zuriel nicht unterstützte.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt