Kapitel 15.3 - Das Land der Engel

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Kain konnte das Gefühl von Schmerz nur schwer beschreiben, da er in den letzten Stunden nichts anderes außer Qualen vernommen hatte. Sie paralysierten ihn, durchzuckten seinen Körper wie ein Blitzschlag und raubten ihm sämtliche Luft zu atmen. Jedes Mal, wenn eine neue Welle seinen Körper durchströmte, krümmte er sich auf dem Boden, während stumme Tränen über seine Wangen rannen. Anfangs hatte er geschrien, sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, so stark, dass er dunkles Blut gespuckt hatte, doch das war längst vergangen. Stille hatte ihn befallen wie ein einsamer Fluch. Seine Kehle fühlte sich trocken und rau an und selbst seine Lippen dursteten nach kühlendem Nass. Es genügte, dass sein Mund Worte formte, damit ihn der Schmerz wie ein Schlag in die Magengrube traf. Kain fühlte sich gebrochen.

Obwohl es in der dunklen Gasse, die nachts nur die zwielichtigsten Gestalten betraten, nach Abfall und Fäkalien roch, konnte sich Kain nicht aufraffen. Weder seine Beine, noch ein anderer Teil seines Körpers gehorchte seinem Willen. Das Einzige, das gerade eine Rolle spielte, war der Schmerz. Wie Gift zog er sich durch seine Zellen und wie Säure brannte es auf seiner Haut. Die Krähe wollte sterben, sich das Herz aus der Brust reißen, in einsamer Hoffnung, die Schmerzen würden endlich verklingen, doch egal wie sehr er flehte, die Qualen blieben unerlässlich. Mittlerweile konnte er kaum noch einen klaren Gedanken fassen, während seine Glieder unkontrolliert zuckten, als wäre er von einem Dämon besessen. Seine Iriden zeigten abwechselnd die Farben Rot und Braun, während das Bordeaux allmählich zu dominieren begann.

Schließlich stürmte alles aus ihm heraus und Kain erbrach eine Mischung aus schwarzem Schleim und Blut. Parallel durchzog ein grässliches Gefühl seine Magengegend. Ein Gefühl, das den Würgereiz erneut hervorlockte, so bestimmte ein Husten in den nächsten Minuten über den Moment.

Es dauerte lange, bis Kain verstummte und die Schmerzen an Intensität verloren. Zum ersten Mal, seitdem er die kleine Küstenstadt betreten hatte, konnte er durchatmen. Trotzdem war ihm bewusst, dass dieser Moment der Ruhe nicht lange anhalten würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Qualen erneut in seinen Körper brachen, stärker und schlimmer als zuvor. Egal mit wie viel Willenskraft sich der Auftragsmörder ihnen entgegenstellte, er unterlag in jeder Schlacht. Als Lösung brannte sich ein einziger Gedankengang in seinen Kopf. »Selbstmord.« Dieses Wort glich einer bittersüßen Verführung. Es flüsterte ihm falsche Versprechen ein, die von außen betörend klangen, doch im Inneren ein unreines Herz besaßen. Die wahre Gestalt der Lüge glich einer verwesenden Leiche, allerdings konnte Kain nicht hinter die Maskerade des Engels blicken. Sein Blick war trüb. Wahrheit und Illusionen vermischten sich.

In einem weiteren Moment der Schwäche fuhr Kains zitternde Hand in die Innentaschen seines Mantels, doch anstelle eines Dolches fand er nur Leere. Ein leises Fluchen entfloh ihm, bevor er sich mit seinen letzten Kräften auf den Rücken drehte. Erste Wassertropfen fielen auf sein Gesicht, während die Krähe in endlose Finsternis starrte. Es fing an zu regnen oder tat es das schon länger? Kain konnte diese schier einfache Frage nicht beantworten. Die letzten Stunden waren an ihm vorbeigerauscht, als würde er von der Flut davon gerissen werden und trotzdem zog sich jede Minute bis ins Unendliche. Er war gefangen in einem Kreislauf der Qualen und seine Existenz besaß den alleinigen Grund, Schmerz zu empfinden.

Abermals verstärkten sich die Beschwerden und wieder verkrampfte er sich. Er bog seinen Rücken durch, während er den Kopf in den Nacken drücke. Dabei spielte der harte Asphalt keine Rolle. Zeitgleich trat dieser Gedanke wieder auf. »Selbstmord.« Selten hatte etwas so verlockend gewirkt. So verführerisch, dass er am liebsten sämtliche Gegenwehr fallen gelassen hätte. Lediglich sein Wille, Lucifer nicht gewinnen zu lassen, hielt Kain davon ab, am Rand des Abgrunds nicht zu springen. Den Aufwand, den er betrieben hatte, durfte nicht umsonst sein.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt