Im Wald war es still. Nur selten vernahm man einen animalischen Laut zwischen dem Rascheln der Blätter, die sich im seichten Wind bewegten. Dicht an dicht standen die Bäume und ihre Äste verzweigten sich zu einer dicken Schicht. Unten am Waldboden erkannte man weder das Gras noch die groben Umrisse der Büsche. Erst als die Sonne hinter dem Horizont auftauchte und den Himmel in ein umfangreiches Farbspektrum der Harmonie wandelte, drang das erste Licht durch die Dunkelheit. Einzelne Strahlen brachen durch das Blätterdach, ließen den Wald nach und nach zu neuem Leben erwachen.
Auch Kain regte sich erstmals, als sich seine Umgebung erhellte. Ein unzufriedener Laut drang durch seine geschlossenen Lippen, bevor er sich zur Seite drehte und die Augen öffnete. Schnell hatte er sich an das Licht gewöhnt und mit einem letzten Gähnen richtete er seinen Oberkörper auf. Sein Rücken schmerzte ein wenig von dem harten Untergrund und Dreck fand sich auf seinem Mantel, den er nach dem Aufstehen missmutig wegwischte.
Schnell legte er die Kleidung wieder an und zückte seine Pistolen. Zwei schwarze Sonderanfertigungen, die er eigenhändig verbessert hatte. Pro Waffe fand sich ein roter Ätherkristall an der Seite, der ihm genügend Munition verschaffte, um ein Massaker zu veranstalten. Passende Zaubersprüche hatte er damals auf der Schule gelernt, eine der wenigen Dinge, die er, abgesehen von Lesen, Schreiben und Rechnen, beibehalten hatte. Den Bau von Waffen hatte er sich am Anfang seiner Karriere eigenhändig beigebracht. Inzwischen baute er sich all seine Waffen selbst, eine Fähigkeit, mit der er genügend Geld verdienen könnte, wenn er nur wollen würde, was er nicht tat. Früher hatte er mit einem Schwert gemordet. Es war eine lange, leicht gebogene Klinge aus scharf gefaltetem Stahl gewesen, doch schnell siegte die Reichweite der Pistolen. Notfalls befanden sich an seiner Hüfte noch zwei einfache Dolche, von denen er jedoch nur selten Gebrauch machte. Insgeheim waren ihm all seine Waffen ans Herz gewachsen, so war es beinahe Routine, dass er sie täglich begutachtete.
Nach einer kleinen Inspektion von Form und Mechanismus feuerte er probeweise einen Schuss ab. Gekonnt streckte er den Arm aus, während die Zauberformel seinen Mund verließ. Im Normalfall bestand sie nur aus einer einzelnen Silbe, doch je mehr Worte er anhängte, desto mächtiger wurde die Kraft des Zaubers.
Der Laut, der seinen Mund verließ, war leise und nahezu unverständlich, doch es genügte, damit sich innerhalb einer Millisekunde ein ungeheurer Druck im Lauf der Pistole ansammelte. Zeitgleich glühte der Ätherkristall auf, aus dessen Macht ein Bruchteil entzogen wurde. Der Speicher fiel von 25 auf 23, doch selbst diese kleine Menge genügte, um einen Schuss abzufeuern. Lautlos stürmte der manifestierte Zauber los, in Form einer roten Kugel und traf zielgenau ein Blatt des nächstgelegenen Baums. Die Einzelteile sanken zu Boden. Zugegeben war die Zerstörungskraft des Schusses gering, doch manchmal brauchte es nicht viel, damit ein Mensch sein Leben ließ. So konnte Kain die Schönheit eines vergehenden Lebens in vollen Zügen genießen, ohne sich selbst zu beschmutzen.
Nachdem er die Waffen wieder unter seinem Mantel versteckt hatte, streckte sich Kain ein letztes Mal, bevor er sich in Bewegung setzte. Schritt für Schritt entfernte er sich immer weiter von dem Dorf. Er war bereits ein gutes Stück gegangen, da drang ein bescheidenes Piepen durch die Stille. Sofort verlagerte sich die Aufmerksamkeit des Schwarzhaarigen auf sein Handgelenk, das von einer silbernen Uhr geschmückt wurde. Die Zeiger rotierten wild und erschienen beinahe wie ein Strudel aus hellem Grau. Unkontrolliert zogen sie ihre Kreise, um Kain zu signalisieren, dass er soeben einen neuen Auftrag bekommen hatte. Dabei steigerte sich die Laune des Mörders augenblicklich, doch für ein Lächeln genügte es nicht.
Da Kain von keinem Vermittler abhängig sein wollte, hatte er zu Beginn seiner Karriere ein System entwickelt, das aus einem Ritual bestand, welches selbst jene ausführen konnten, die keine Veranlagung für Magie besaßen. Die einzige Voraussetzung war, der Wunsch jemanden zu töten, und wann immer dieser Fall eintrat, bekam Kain die benötigten Informationen über seine Uhr mitgeteilt. Dieses System war einer der Gründe, warum man bisher nicht geschafft hatte, die Krähe zu ergreifen.
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...