Kapitel 11.3 - Auftakt der Göttlichkeit

553 72 117
                                    

»Besprechen ist das falsche Wort«, murmelte Lyra und wickelte eine silberne Strähne um ihren Finger, während ein nachdenklicher Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien. »Im Grunde wollte ich lediglich noch einmal zum Schauort des Geschehens.«

Die Krähe schluckte. Was wollte sie damit bezwecken? Erhoffte sie sich, dass er sich irgendwie verraten würde, wenn sie ihn nur weit genug in die Enge trieben? Eine Möglichkeit wäre es zumindest.

»Du meinst den Ort, wo die Puppen mich angegriffen hatten?«, hakte Kain nach. Eigentlich stand die Antwort bereits fest, ganz so, als wäre sie in Stein gemeißelt worden, doch ein kleiner Teil seines Herzens betete inständig, dass Lyra seine Frage nicht bejahen würde.

»Du hast es erfasst.« Mit vier einfachen Worten wurde jegliche Hoffnung zerstört. Allerdings was hatte er erwartet? Er sollte sich nicht an irgendwelche Illusionen festklammern, nur weil sie das Leben einfacher gestalteten. Schon früh hatte er lernen müsse, wie es war, im Angesicht der grausamen Realität zu stehen. Im Vergleich zu dem, was er bereits durchgemacht hatte, war das bevorstehende Hindernis ein Kinderspiel. Was auch immer Lyra beabsichtigte, er würde dafür sorgen, dass sie kläglich scheiterte.

Der Auftragsmörder hob beide Augenbrauen und fuhr sich seufzend durchs Haar. »Aber ich versteh nicht ganz, warum du mich dazu holst. Ich sagte bereits alles, was ich weiß.«

Die Göttin schnalzte mit der Zunge und für einen Moment schien es so, als würde sie nicht wissen, was sie erwidern sollte. Doch genauso schnell, wie dieser Eindruck gekommen war, verschwand er wieder und zurückblieb die selbstbewusste Anführerin, als die Kain sie kennengelernt hatte. »Dessen bin ich mir bewusst, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du unter Schock standest. Manchmal fällt einem mehr ein, wenn man mit einem ruhigen Kopf nochmal drüber schaut.«

Kain unterdrückte ein missmutiges Grummeln. Sie war nicht umsonst die Anführerin der Rebellion. Nicht nur ihre Kampfkraft war überwältigend, sondern auch intellektuell lag sie weit über einem durchschnittlichen Bewohner Inidos. Ob sie ihre Intelligenz ebenfalls dem göttlichen Blut zu verdanken hatte?

»Ich verstehe«, antwortete er schließlich. »Dann lass uns nochmal zu der Lichtung. Denkst du denn, dass es sicher ist?«

»Ich war vorhin bereits da. Die Überreste der Marionetten haben wir vergraben, damit niemand Wind von der Sache bekommt. Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich denke, dass es sicher ist.«

Tatsächlich hatte Kain bereits vermutet, dass die Marionetten erstmal keine Bedrohung darstellten, immerhin hatten sie nach ihrem ersten Zusammentreffen mehrere Wochen gebraucht, um ihn erneut zu konfrontieren. Natürlich war es keine Absicherung, dass es dieses Mal genauso wäre, aber was blieb ihm anderes übrig?

»Gut, ich vertraue dir.« Kain ließ ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen erscheinen, genau so, dass es vollkommen natürlich wirkte. Leider wusste er nicht, ob es bei Göttern auch funktionierte, doch Menschen neigten dazu jemandem schneller zu vertrauen, der einem mit Freundlichkeit gegenüber stand. Einen Versuch war es zumindest wert und schaden könnte es nicht.

»Das weiß ich zu schätzen.« Lyra schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln, was die Krähe insgeheim beruhigte. Zwar würde er nicht unvorsichtig werden, aber dass eine Gefahr bestand, bezweifelte er stark.

Mit einem Nicken bestätigte er der Göttin, dass er bereit war aufzubrechen, so musterte sie ihn ein letztes Mal, bevor sie ihm schwungvoll den Rücken zuwandte und in die Richtung schritt, aus der sie gekommen war. Nach einem kurzen Zögern folgte Kain ihr, wobei sich seine Augen verengten und seine Muskeln anspannten. Im Grunde verlief es zu gut. Ohnehin war es sein Plan gewesen, Lyra vom Lager wegzulocken, da kam es ihm umso passender, dass sie auf ihn zukam. Die Göttin konnte nicht ahnen, dass er ein Auftragsmörder war, der nach ihrem Leben gierte. Ihre Unwissenheit würde ihr Grab bedeuten und Kain wäre derjenige, der eigenhändig den Sag vergrub.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt