Keuchend befreite sich Lyra aus Lucifers Griff und stützte sich auf dem Boden ab. Atemlos schnappte sie nach Luft, während die schwarzen Flecken, die zuvor ihr Sichtfeld vernebelt hatten, allmählich verschwanden. An ihrem Hals fanden sich Male, blutige Kratzspuren, dessen Blut wie Magma aus den Wunden floss. Noch immer spürte sie den Druck, der ihre Kehle zugeschnürt hatte. Ihr den Sauerstoff geraubt hatte.
Um sie herum schwirrte Kälte. Kühle Nebelschwaden schwebten im Thronsaal und als es Lyra gelang, aufzublicken, erkannte sie das Konstrukt aus Frost und Schnee, das sie mit ihren eigenen Worten geschaffen hatte. Bewegungslos, von Eis umgeben, starrte Lucifer ihr entgegen. Kein Regen in seinen Muskeln. Kein Zucken in seinen Augen. Wie die Überreste einer vergangenen Zivilisation. Lediglich die Hand, mit der er sie gewürgt hatte, ragte aus dem Eis. Aber auch sie war von dem Fluch der endlosen Starre befallen.
Kaum verstand Lyra, dass ihr Zauber gelungen war, rutschte sie von Lucifer weg und rappelte sich auf. In ihrem Kopf drehte es sich. Aber ob es von dem Sauerstoffmangel oder dem Zauber der Stufe G stammte, konnte sie nicht beantworten. Das Eiskonstrukt zog sich über mehrere Meter. Spitzen, messerscharf und tödlich, zogen sich bis unter die Decken, hätten jeden erdenklichen Feind aufspießen können. Wie lange würde ihre Magie halten? Einen zweiten Zauber konnte sie nicht wirken und Zuriels Ätherkristall war durch die hohen Energiekosten in den Ruhemodus übergegangen. Noch befanden sich die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Aber je länger sie zögerte, desto schneller würde das Eis tauen. Sie besaß höchstens zehn Minuten. Vielleicht auch nur fünf.
Ohne dass sich ihre Atmung beruhigte, suchte sie die Umgebung nach Zuriel ab. Er konnte nicht von dem Zauber getroffen worden sein. Selbst wenn sie die Ausbreitung des Eis nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Im Gegensatz zu Lucifer hatte er sich nicht unmittelbar am Explosionsort befunden.
Lyra brauchte nicht lange zu suchen, als sie eine Klinge aus ihren Augenwinkeln erblickte. Zuriel richtete die Spitze seines Schwertes geradewegs gegen ihre Halsschlagader. Lyra schluckte, doch machte keine Anstalten, sich von ihm zu entfernen. Wenn er sie jetzt niederstrecken würde, könnte sie auch einfach kapitulieren. Nur mit Mühe hielt sie sich noch auf ihren Beinen. Das war ihre letzte Möglichkeit, an Zuriels Unterbewusstsein zu appellieren.
»Ergebe dich, Göttin des Eises. Du hast diesen Kampf verloren.« In Zuriels Augen schimmerte noch immer kein Leben und der Anblick seiner seelenlosen Hülle brach Lyra das Herz. Zumindest waren seine schwarzen Schwingen verschwunden. Vielleicht war seine Verbindung zu Lucifer durch die dichte des Eises gestört. Schließlich handelte es sich um meterdicke, hochkonzentrierte Magie.
Lyra holte tief durch und schluckte ihre Schmerzen herunter, die sie seit wenigen Sekunden umso deutlicher spürtr. »Zuriel. Sieh ihn dir an. Sieh dir an, in welchem Körper Lucifer steckt. Das ist Kain.«
»Ich falle nicht erneut, auf deine Spielereinen herein.« Zuriel trat einen Schritt vor, was Lyra zwang, zurückzuweichen. Ihre Fersen trafen auf ein Trümmerstück. Viel weiter konnte sie nicht gehen.
»Das sind keine Spielereien! Betrachte ihn genau. Momentan magst du ihn als deinen Herren betrachten, aber dieser Körper gehört nicht Lucifer!«
Der Halbengel kniff die Augen zusammen und unterbrach zum ersten Mal den Blickkontakt. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er ihre Worte aus seinen Gedanken verbannen. »Das stimmt nicht. Ich kenne diesen Mann nicht. Er ist mir unbekannt. Der einzige, dem ich diene, ist-«
»Das ist Kain!«, unterbrach ihn Lyra. Da war eine Lücke in Lucifers Manipulation. »Ihr habt euch das erste Mal im Nemo-Wald getroffen. Danach hast du ihn zur Rebellion geführt. Ihr habt euch ein Zelt geteilt, habt gemeinsam trainiert. Und du hast ihn aus den Fängen der Engel befreit. Zuriel! Hör auf meine Stimme. Ihr seid Freunde. Du musst dich an ihn erinnern. «
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...