Kapitel 22.1 - Kalte Hände und warme Herzen

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Kalte Hände und warme Herzen

Wenn Kain die nötige Kraft besessen hätte, hätte er sich aufgerichtet und gefragt, was Alice wollte. Nun, eigentlich hatte sie diese Frage bereits beantwortet: sie wollte ihre Schuld begleichen. Redete sie von dem Verrat, den sie begangen hatte? Aber das sollte außerhalb ihres Interesses liegen. Als Ambigua-Seele besaß sie keine Gefühle. Aus ihrem eigenen Mund war das Bekenntnis ihrer Treue zur Urgöttin gekommen.

»Deine Schuld? Ich verstehe nicht ganz«, sprach Candela ohne ihren Blick abzuwenden. Alice blieb wenige Meter von ihr entfernt stehen. Sie war nicht dumm. Sie wusste, dass Candela sie problemlos vernichten könnte.

»Ich brauche mein Handeln nicht zu erklären.« Noch immer ertönte Alice Stimme mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie ihm damals entgegengetreten war. Aber irgendwas hatte sich verändert. Er konnte es nicht beschreiben, aber da war etwas. Ganz bestimmt.

»Alice«, keuchte er. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, sodass es schmerzte, wenn er sprach. Vorsichtig, um keinen weiteren Zusammenbruch zu riskieren, hob er seinen Kopf. Allmählich verschwand der Schwindel und die diffusen Umrisse setzten sich zu klaren Konturen zusammen.

Allerdings schüttelte die Ambigua-Seele den Kopf und bedeutete ihm mit einer Handbewegung sich hinzulegen. Einen Teufel würde er tun, aber anscheinend meinte sie es ernst. Das war nicht einer von Candelas dämlichen Streichen. Alice war gekommen, um sie zu retten. Egal, wie oft er diese Tatsache in seinen Gedanken wiederholte, er konnte es nicht begreifen. Fühlte sie sich schuldig? Aber konnte ihre Vergangenheit, die wie ein lästiger Schatten für sie war, einen zweiten Verrat rechtfertigen?

Die Urgöttin knirschte mit den Zähnen und spätestens als sich ihr Gesicht zu einer Fratze deformierte, wusste jeder um ihren Gemütszustand. Die Anspannung brachte ihren Körper zum Zittern und Kain sah vor seinem inneren Augen Alice zerfetzte Seele aufblitzen. Dann kamen ihm ihre Worte in den Sinn. Im Austausch für ihre Gefühle hatte sie Macht erhalten. Aber konnte sie es mit einer Urgöttin aufnehmen? Es stand in ihren Genen geschrieben, dass kein Wesen mächtiger sein konnte, als die Architekten der Welt. Er musste ihr helfen.

Kains Blicke durchsuchten den Raum unauffällig und als er seine Pistolen auf dem Boden liegen sah, streckte er seine Hand aus. In Gedanken murmelte er einen Zauberspruch, wodurch die Waffen in seinen Händen erschienen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Candela. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt, aber spätestens wenn er auf den Abzug drückte, würde er ihre gesamte Macht zu spüren bekommen. Leise visierte er die Urgöttin an. Konnte er das riskieren?

Erneut glitt sein Blick zu Zuriel. Dieser wischte sich das Blut aus den Augen. Sofort fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er hatte überlebt, wenngleich seine Verfassung miserabel war. Mehrere Wunden zogen sich über seinen Körper und nur die wenigsten schienen zu verheilen. Er hatte viel Blut verloren, aber seine himmlische Hälfte schützte ihn vor der Ohnmacht. Trotzdem brauchte er dringend medizinische Versorgung.

»Ich übernehme ab hier«, bedeutete ihm Alice mit strenger Stimme, als sie entdeckte, was Kain plante. Anschließend nickte sie in Zuriels Richtung. »Soll dein Freund mitkommen?«

Die Krähe wusste nicht, ob er Empörung empfinden sollte, doch dann besann er sich und nickte.

Alice runzelte die Stirn, als könnte sie nicht glauben, was er soeben getan hatte. Erst als Candela sie mit einem Energiestrahl attackierte, galt ihre Aufmerksamkeit dem Kampf. Leichtfüßig wich sie dem Angriff aus, bevor sie mit einem Sprung hinter die Urgöttin gelang. Diese reagierte sofort und blockierte Alice Schlag.

»Es war ein Fehler, dich aufzunehmen«, knurrte Candela. Ihre Blicke kreuzten sich mit denen von Alice. Die Ambigua-Seele befand sich nicht ansatzweise auf demselben Niveau, dennoch konnte sie ihren Angriffen standhalten. Etwas, dass Zuriel in seiner derzeitigen Verfassung nicht geschafft hätte.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt