Kapitel 19.3 - Unter den Federn

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Nachdem Zuriel ihm erklärt hatte, dass die Engel nie geplant hatten, ihn zu bewachen, verstand er, dass sie alle Zeit der Welt hatten, um sich auszusprechen. Ihr mangelndes Interesse an seinem Verbleib ließ sich damit begründen, dass Candela seine Aura spüren konnte. Dabei gab es eine kleine Differenz zwischen dem Ort, wo er sich befand und wo die Urgöttin seine Aura spürte. Solange er sich nicht aus dem Flur bewegte, würden die Engel keinen Alarm schlagen. Wenn Kain bedachte, dass es nur einen Schritt benötigt hätte, um einer Horde von Soldaten in die Arme zu laufen, hatte er riesiges Glück gehabt. Wäre Zuriel nur eine Sekunde später angekommen, wäre die Sache schlecht für ihn ausgegangen.

»Geht es wieder?«, fragte Kain, nachdem er sich gänzlich von Zuriel gelöst hatte. Der Auftragsmörder lehnte sich an der gegenüberliegenden Wand an und betrachtete den Halbengel genauestens. Seine Augen waren noch immer gerötet, doch seine Tränen waren versiegt und das war alles, was zählte.

»Mach dir keine Gedanken. Ist denn bei dir alles in Ordnung? Ich wollte nicht so sensibel reagieren, aber irgendwie...« Zuriel schluckte, bevor er beschämt mit den Schultern zuckte. Seine Reaktion entlockte Kain ein amüsiertes Schmunzeln. Es war schön zu sehen, dass sich Zuriel nicht verändert hatte. Seine Ausstrahlung war noch immer dieselbe und auch seine Freundlichkeit war ihm in den letzten Wochen nicht abhanden gekommen. Für einen kurzen Moment dachte Kain, dass sich seine Sicht auf Zuriel verändert hatte, nun, da er über seine Vergangenheit Bescheid wusste, aber genau das Gegenteil war der Fall. Zuriel war noch immer der naive, weltoffene Schmied, den er damals kennengelernt hatte.

Die Krähe winkte lässig mit der Hand ab. »Jetzt ist es ohnehin geschehen, aber ich hätte ein paar Fragen, die ich dir gerne stellen würde.«

Ein letztes Mal wischte sich der Halbengel über die Augen, bevor er einen tiefen Atemzug nahm und sich der Ernst auf seinem Gesicht manifestierte. Sie befanden sich noch immer auf feindlichem Gebiet, aber ohne einen vernünftigen Plan konnten sie nicht fliehen. Doch nun, wo Zuriel ihm zur Seite stand, waren seine Chancen gestiegen. Der Schmied war stark und nun,  da er seine göttliche Magie nutzen konnte, ohne sich zu fürchten, dass seine Identität aufflog, konnte sich der Auftragsmörder nur ansatzweise vorstellen, welche ungeheuren Kräfte in ihm schlummerten. Zwar schränkte der Verlust seiner Ätherwurzeln seine Fähigkeiten erheblich ein, aber er war noch immer der Sohn des Großmeisters. Gemeinsam würden sie sich gegen die Engel behaupten können.

»Warum bist du gekommen, um mich zu retten? Zuvor hast du mich zusammen mit Kenshin und Lyra ausgeliefert. Du erinnerst dich?« Kain runzelte die Stirn. »Oder hast du kalte Füße bekommen?«

Sofort schüttele Zuriel den Kopf. »Eigentlich wollte ich dich nicht ausliefern. Ebenso wenig wie ich glauben wollte, dass du die Krähe bist, deswegen habe ich auch diese Prüfung vorgeschlagen. Und als sich dann alles als Wahrheit herausgestellt hat, was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Du wolltest Lyra töten. Du wolltest meine beste Freundin töten. Du weißt, dass sie diejenige war, die mich verletzt und halb tot an der Küste Reamos fand? Ich habe ihr nicht nur mein Leben zu verdanken. Sie hat mich aufgebaut, mich aus meinem Loch geholt. Wer weiß, wo ich heute ohne sie wäre.«

Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Zuriels Loyalität der Rebellion galt. Niemals würde ihm in den Sinn kommen, Lyra oder Kenshin in den Rücken zu fallen. Das wäre nicht er, aber genau deswegen verstand er nicht, warum er ihm gefolgt war. Kain war ein Verräter. »Aber das erklärt nicht, warum du nun hier stehst. Weiß Lyra davon?«

»Nein, ich habe es niemanden erzählt.«

»Du bist also heimlich aufgebrochen?«

Als Antwort nickte Zuriel. »Wenn ich ihnen von meinen Vorhaben erzählt hätte, hätten sie mich abgehalten. Das konnte ich nicht riskieren. Schließlich geht es um das Gleichgewicht der Welt und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie ich ihnen die Situation später erklären soll.«

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt