Kapitel 12.3 - Der Weg zur Erkenntnis

521 70 109
                                    

Für die nächsten Minuten verfiel Kain in eine Art Trance. Er hatte ganze Stunden damit verbracht, über Zuriels Geheimnis nachzudenken. Dabei waren ihm die skurrilsten Möglichkeiten eingefallen. Er hatte es sogar in Betracht gezogen, dass er eine Mutation überstanden hatte, wie es bei den meisten Tieren nach dem Kontakt mit Äther auftrat, aber nie hätte er es für möglich gehalten, dass die Wahrheit so aussah. Zuriel war ein Halbengel. Ein himmlisches Wesen, das den Urgöttern diente und jedem Befehl Folge leistete, egal wie grausam und unmoralisch dieser war.

Kain wollte etwas sagen, die Echtheit dieser Aussage anzweifeln, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Es kam ihm so vor, als würde es im Inneren seines Halses bluten, als hätten sich all die Lügen, die seinen Stimmbändern entsprungen waren, in giftige Scherben verwandelt, dennoch änderte das nichts an den Tatsachen. Zuriel war ein Halbengel. Eines der göttlichen Wesen, die fernab der Straße des Lichts wohnten.

Egal wie verzweifelt Kain es versuchte, er konnte seinen Blick nicht von Zuriel abwenden. Erst dachte er, dass das Bild eines Engels nicht zu ihm passte, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab es. Seine unendliche Güte und auch seine naive Art standen nicht im Widerspruch zu den starken Charakterzügen eines Engels. Womöglich hatte er es nie zur Geltung genommen, aber Zuriel war nicht schwach, weder körperlich noch mental. Dass er ungeheure Kräfte besaß, hatte er bereits beim Kampf gegen ihn bemerkt, aber erklärte seine Abstammung auch den Wahnsinn, der dabei in seinen Iriden entbrannt war? Oder hatte das etwas mit dem Verlust seiner Ätherwurzeln zu tun?

»Stimmt das?« Die Stimme des Auftragsmörders war leise, kaum zu verstehen, dennoch war er sich sicher, dass Zuriel sie vernommen hatte. Er brauchte Bestätigung. Er musste die Wahrheit aus seinem Mund hören, ehe seine Vorstellung zu einem Scherbenhaufen zerbrach.

Zuriel öffnete den Mund, bereit etwas zu erwidern, aber die Silben erstickten in seiner Kehle, so presste er stattdessen die Lippen aufeinander, während seine Augen in einem Schatten verschwanden. Seine Reaktion war eindeutig, dennoch leugnete Kain die Offenbarung weiterhin, wenngleich er damit drohte, sein eigenes Empfinden zu täuschen.

»Sie lügen nicht«, erklärte Lyra schließlich. Ihre Worte befreiten Kain aus der Gewalt des Fluches, sodass er seinen Blick von Zuriel abwenden konnte. »Wir fanden ihn vor rund sechs Monaten an der Küste. Bewusstlos und mit zwei Wunden am Rücken, dort wo ursprünglich seine Ätherwurzeln saßen.«

Augenblicklich kam der Krähe das Bild der beiden Narben in den Sinn, die links und rechts von Zuriels Wirbelsäule saßen. Daher stammten sie also.

»Und da saßen die Ätherwurzeln? Dort, wo sich nun Narben befinden?« Kain hob seinen Kopf und rückte näher an die Gitterstäbe. Das Metall war kalt und befremdlich, doch er platzierte seinen Kopf so, dass er den Halbengel genauestens beobachten konnte. Seine Augen wie die Iriden einer Schlange folgten jeder Bewegung.

»Kein Wunder, dass Zuriel dir vertraute, wenn er dir selbst seine Narben zeigte«, merkte die Göttin an und warf dem Schmied einen flüchtigen Seitenblick zu. Dabei mischte sich Mitgefühl in ihren Ausdruck, da sie ganz genau wusste, was er durchgemacht hatte. Allerdings fühlte sich Zuriel noch immer unwohl in seiner Haut. Zwar konnte er nichts für seine Abstammung, trotzdem verabscheute er seine himmlische Seite. Er war der festen Überzeugung, dass die Engel sich nach falschen Prinzipen richteten, aber eine Rebellion gegen die Urgöttin war sinnlos. Letztendlich hatte sein Schicksal schon immer Verbannung gelautet, jedoch war das in Ordnung. Lyra und Kenshin hatten ihm viel mehr gegeben, als die Engel jemals könnten. Freundschaft und das Gefühl von Verbundenheit.

»Vermutlich zeigte er sie lediglich, da er Kains sah«, verbesserte Lepha ihre Aussage, woraufhin der Krähe die Gesichtszüge entgleisten. Wie von selbst spannte sich sein Körper an und Schweiß perlte von seiner Stirn ab. Hatten sie diese Information von Zuriel bekommen?

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt