Das erste, was Kain in den Sinn kam, war, dass Kenshin lügen würde. Mit Sicherheit war das bloß einer seiner Listen, wie er sie damals angewandt hatte, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren, doch je er länger darüber nachdachte, desto schneller verstand er, dass er die Wahrheit erzählte. Diese Erkenntnis hallte in seinem Kopf wider und ritzte sich mit jedem Echo weiter in seine Schädeldecke. Parallel baute sich ein überwältigender Druck in seinem Inneren auf. Sie würden ihn den Marionetten übergeben. Diese Tatsache lastete auf seinen Schultern wie ein Gewicht von mehreren Tonnen. Gleichzeitig setzte sein Herz einen Schlag aus. Er durfte es nicht so weit kommen lassen, doch auch er musste sich eingestehen, dass er nicht die leiseste Chance gegen Lyra, Kenshin und Zuriel hatte. Selbst wenn es ihm gelingen würde, den Schmied auf seine Seite zu ziehen, wäre eine Flucht nahezu unmöglich und auch sein letzter Trumpf, seine Unsterblichkeit, könnte ihm keinen Ausweg ermöglichen. Anscheinend war das also das Ende. Nie hätte er gedacht, dass seine Laufbahn als Auftragsmörder so enden würde. In den letzten Jahren hatte er sich einen Namen gemacht. Ein Pseudonym, das selbst über die Grenzen Indios hinaus bekannt war. All die Arbeit, all die Leidenschaft, die er in seine Kunst gesteckt hatte, konnte nicht vergebens sein. Er weigerte sich das zu glauben, doch egal wie wild sein Herz gegen die Gefangenschaft rebellierte, er konnte seinem Schicksal nicht entfliehen.
»Das könnt ihr nicht machen!« Kain gelang es nicht, das Zittern, das seine Stimme begleitete, zu verstecken. Eine Reaktion, für die er sich selbst verfluchte, allerdings verlor er sämtliche Kontrolle über seine Körper, wenn er an den Verlust seiner Leidenschaft dachte. Sie durften ihm nicht das nehmen, was ihm einen Sinn im Leben bescherte. Das durften sie einfach nicht.
»Wir taten es bereits.« Kenshins Stimme zeigte kein Erbarmen. Wie sollte er auch Verständnis für jemanden empfinden, der sich daran erfreute, wenn das Leben aus einem Körper schwand? Für ihn war er nichts anderes, als jemand, der die Zukunft fremder Menschen stahl. Er tätigte Verbrechen, für die selbst die Totenwelt zu gut wäre. Wenn Kain nicht unsterblich wäre, würde er hier und jetzt dafür sorgen, dass die Krähe seinen letzten Atemzug nahm. Allerdings war er sich sicher, dass das, was die Marionetten mit ihm vorhätten, weitaus grausamer wäre. Es wäre eine gerechte Strafe, um für seine Schuld zu sühnen.
Kains Mund fühlte sich trocken an, als er zu Zuriel sah. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten lag etwas Flehendes in seinem Blick. Ein verglühendes Sternenmeer an Verzweiflung, das dem Schmied ein weiteres Mal das Herz brach.
»Es tut mir so leid, Kain.« Zuriels Stimme war wie der Gesang einer Sirene. Unschuldig und süß, doch hinter der Fassade versteckte sich ein stürmendes Meer, das den Auftragsmörder bis auf den Grund zog. Was hatte er sich überhaupt erhofft? Zuriels Hilfe? Das war lächerlich. Nicht einmal seine Barmherzigkeit würde genügen, um einem Mörder zur Flucht zu verhelfen. Er war alleine, so alleine, wie er es schon immer gewesen war.
»Ich hasse euch.« Für Lyra, Zuriel und Kenshin klangen seine Worte vermutlich wenig bedrohlich, aber selten hatte er einen Satz so voller Ernsthaftigkeit ausgesprochen. Es stimmte, dass er seine Mitmenschen verabscheute. Jeder war tief in seinem Inneren ein verdorbenes, egozentrisches Biest, das nur nach seinem eigenen Vorteil gierte. Sowas wie Aufopferung gab es nicht und würde es nie geben, allerdings war das kein Grund jemanden zu hassen. Kain hasste weder seine Opfer, noch diejenigen, die ihm zufällig über den Weg liefen. Er verabscheute sie lediglich, als wären sie Ungeziefer, das sich wie eine Plage ausbreitete.
Eine Antwort bekam Kain nicht, stattdessen wandte Lyra ihren Blick ab, während Kenshin ihm seine Waffen und die Kette mit dem Äther entwendete. Anschließend band er ihm ein Seil um die Handgelenke. Obwohl sich die Krähe mit Leibeskräften wehrte, gelang es Kenshin ihn ohne großen Aufwand zu fesseln. Dabei nahm er keine Rücksicht und zog das Seil so fest, das es tief in sein Fleisch schnitt. Es scheuerte unangenehm und schon nach einer Weile verloren die abgeschnürten Körperteile an Farbe. Die Durchblutung war behindert, sodass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich der Schmerz in ein Gefühl der Betäubung wandeln würde.
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...