☬ Königsfeder und Freundschaftsschwur ☬
Lyra war eine Meisterin darin, Mut und Zuversicht aus den grausamsten, schlimmsten Situationen zu fassen, aber nie war ihre Entschlossenheit innerhalb eines Augenblicks zerstört worden. Was hatte das zu bedeuten? Warum betitelte Zuriel Kain als Meister? Bedeutete das... Selbst in Gedanken konnte sie es kaum aussprechen. Bedeutete das, Lucifer befand sich in Kains Körper? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Mit Sicherheit hatte der Urgott lediglich eine Methode gefunden, um die Differenzen in ihrem Aussehen zu begleichen.
»Wo ist Kain?«, sprach Lyra finster, während sie versuchte, auf ihre letzten, inneren Magiereserven zurückzugreifen, aber eine unsichtbare Macht hielt sie davon ab, sie richtig zu packen. Grummelnd trat sie einen weiteren Schritt zurück und hielt sich zum Angriff bereit. Erneut drückte sie sich gegen die Fesseln, aber sie schnitten lediglich weiter in ihre Handgelenke. Vermutlich waren sie der Grund, warum sie nicht die Kraft ihres göttlichen Blutes nutzen konnte. Aber ohne einen Ätherkristall als Katalysator würde sie ohnehin nicht weit kommen. Schlimmstenfalls würde sie sich selbst verletzen und das konnte sie nicht riskieren.
Lucifer hob eine Augenbraue und warf ihr einen spöttischen Blick zu, bevor er sich umdrehte und zu Zuriel schritt, der noch immer kniete. Der Halbengel machte keine Anstalten, sich zu erheben. »Kain existiert nicht mehr.«
Wie ein Spiegel, auf den man eingeschlagen hatte, aber Lyra wollte ihm nicht glauben. Vielleicht war es Ignoranz, aber der Gedanke, dass sich ihre Situation trotz allem, was bereits geschehen war, weiterhin verschlechtern konnte, schmerzte. »Das ist eine Lüge! Du lügst!«
»Ich lüge nicht.« Schwungvoll setzte sich Lucifer auf eine der zertrümmerten Säulen und kreuzte die Beine übereinander. »Er hat mir seinen Körper angeboten.«
Lyra wirbelte zu ihm herum. »Warum sollte er das tun?«
»Du bist eine kluge Göttin. Kannst du dir die Antwort nicht denken?« Lucifers Blicke wanderten zu dem knienden Zuriel. Grob packte er den Halbengel am Kinn und riss ihn in seine Richtung. Zuriel wehrte sich nicht und folgte seiner Bewegung freiwillig.
Die Worte blieben in Lyras Kehle stecken. Sie konnte sich die Antwort denken und trotzdem wollte sie es nicht aussprechen. Der Auftragsmörder war einen Vertrag mit Lucifer eingegangen. Im Gegenzug für Zuriels Freiheit durfte der Urgott seinen Körper besetzen. Zugegeben war das kein schlechter Schachzug. Lyra verstand, warum Kain so gehandelt hatte, auf der anderen Seite hatte sich Lucifer nicht an seine Abmachung gehalten. Zudem sollte der Urgott im Körper eines Menschen in der Lage sein, das Totenreich zu verlassen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Lucifer in Reamo einmarschiert. Reamo wäre auf beiden Wegen dem Untergang geweiht, aber es war ein Unterschied, ob die Titanen den Kontinent innerhalb weniger Minuten zerstörten oder Lucifer mit dem Leben ihres Volkes spielte.
»Wenn dir Kain tatsächlich seinen Körper überlassen hat«, sprach Lyra, nachdem sie tief Luft geholt hatte, »warum hast du dich nicht an deinen Teil der Abmachung gehalten?«
Lucifer löste seinen Griff von Zuriel. Der Schmied sackte zurück auf seine ursprüngliche Position. »Warum sollte ich? Ich bin einen Vertag mit Kain eingegangen, dem gefürchtetsten Auftragsmörder Reamos. Aber dieser Kain existiert nicht mehr. Sein Verstand, sein Herz und seine Seele sind versiegelt. In dem tiefsten aller Schläfe. Für ihn gibt es nicht einmal das Leben nach dem Tod. Mit anderen Worten, warum sollte ich mich an einen Vertrag halten, dessen Vertragspartner es nicht gibt?«
Wut kochte in Lyra auf. Am liebsten würde sie dieses grässliche, herablassende Lächeln von seine. Gesicht putzen. Wenn sie nur ihr Schwert hätte, würde sie den Urgott für all seine Vergehen hinrichten lassen. Ihm war nicht zu trauen. Selbst in einem so einfachen Vertrag würde er ein Schlupfloch finden. Also war Kains Opfer umsonst gewesen? Was bedeutete, dass es keine Möglichkeit mehr gab, Zuriel zur Besinnung zu bringen. Lyras Knie wurden weich und gaben unter ihrem Gewicht nach. Tränen sammelten sich in ihren Augen, tropften auf den schmutzigen Boden, wurden eins mit dem Staub. Unbedeutend, schwach, vergänglich. Ohne Kain gab es keine Hoffnung für Zuriel. Hätte sie nur Kenshin an ihrer Seite. Alleine konnte sie diesen Gegner nicht bezwingen. Erneut kam ihr Arthur in den Sinn. Was würde er in dieser Situation tun? Wie würde ihr Bruder handeln? Gab es überhaupt irgendwas, was sie tun konnte? Gefesselt, ihrer Freiheit beraubt, alleine, ohne Magie, der Gnade eines Urgotts ausgeliefert. Das konnte nicht das Ende sein. Wo war ihre Entschlossenheit geblieben? Sie musste aufstehen. Jetzt, kämpfen und das bis zum bitteren Ende, andernfalls könnte sie niemals sagen, dass es keine Lösung gab. Sie musste nur aufstehen. Ihre Beine mussten nur ihrem Körper gehorchten und die Tränen mussten aus ihren Augen verschwinden. Sie musste kämpfen. Jetzt!
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...