☬ Epilog ☬
Als Lyra durch die eleganten Gänge des Drachenpalasts schritt, konnte sie sich kaum vor Vorfreude gehalten. Nach einem tränenreichen Abschied von Kain und Zuriel und einer langen Schiffsreise zurück nach Reamo hatte sie vor ungefähr zwei Wochen endlich wieder festen Boden unter den Füßen gehabt. Der Göttin vor Marcon hatte sie als Erstes die gute Nachricht erbracht. Danach hatte man sie zurück nach Fonsan geschickt, wo sie Kenshin förmlich um den Hals gefallen war. Der Krieger wirkte deutlich gesünder, als bei ihrem letzten Sehen. Wenngleich er noch immer auf die Krücken angewiesen war, so benötigte er keine schonende Bettruhe mehr. Der Verlust ihres linken Unterarms war ein gewaltiger Schock gewesen, aber da Zuriel die Wunde bestens behandelt hatte, würde sie keine weiteren Schäden davontragen.
In Fonsan hatte Noka ihr von dem Rückzug von Arthurs Truppen berichtet. Das geschah nur einen Tag, nachdem sie Lucifer besiegt hatten. Wenngleich sich ihr Bruder noch nicht zu Wort gemeldet hatte, so sprach alles darauf hin, dass er wieder bei Besinnung war. Dennoch hatte der Krieg erhebliche Opfer gefordert. Insgesamt siebenhundertzweiunddreißig Menschen hatten auf dem Schlachtfeld ihr Leben verloren. Hinzu kamen etliche Bewohner Fonsans und weitere hunderte Vermisste. Die Sachschäden waren erträglich, aber es würde Monate dauern, bis die vielen Flüchtige ein neues Zuhause besäßen. Selbstverständlich versprach sie, Noka finanziell zu unterstützen. Ihr Bruder würde keine Einwände besitzen. So wie Lyra ihn kannte, würde er mehr Gold zu Verfügung stellen, als überhaupt nötig wäre. Auch wenn kein Geld der Welt die Toten zurückbringen konnte, so war es wenigstens ein Ansatz von Reue. Wie sie dem Volk das plötzliche Ende des Krieges erklären sollten, stand noch nicht fest. Die Wahrheit zu erzählen, wäre womöglich am einfachsten, aber noch konnten sie nicht abschätzen, wie Candela darauf reagieren würde. Weiteres müsste sie definitiv mit Kain absprechen, denn er wäre der Einzige, der ihnen Immunität gegen Candela gewähren könnte. Als neuer Urgott besaß er immerhin gleichwertiges Mitspracherecht. In dem Fall würden sie aber dennoch verschweigen, dass Lucifer gefallen war. Zu viel Wahrheit würde den Menschen nicht guttun. Zusätzlich mussten sie die Situation so schonend wie möglich erklären. Auch bräuchten sie das Einverständnis der übrigen Götter. Aber ob sie sich letztendlich für die Wahrheit entschieden oder nicht, nichts, würde den Hass auf Arthur plötzlich verschwinden lassen. Möglicherweise müsste er als König zurücktreten. Dann wäre sie die neue Königin. Ein seltsamer Gedanke, schließlich hatten sie sich damals zum Wohle des Volkes dazu entschieden, dass man Arthur krönte.
Aber all diese Dinge würden sie erst später besprechen. Momentan wollte sie nichts mehr, als ihren Bruder zu umarmen. Kenshin, der ihr durch das Schloss folgte, lächelte leicht. »Das Reamo euretwegen vor dem Untergang bewahrt wurde. Seine Majestät wird sehr stolz auf Euch sein.«
Lyra drehte sich zu ihm um und lief rückwärts weiter. So konnte sie Kenshin ins Gesicht blicken, während sie miteinander sprachen. »Das sollte er besser sein. Arthur schuldet mir mehr als er jemals zurückzahlen könnte. Damit werde ich ihn später aufziehen.«
»Die klassische Geschwisterliebe«, lachend schüttelte Kenshin den Kopf. Dann stoppten sie vor der Tür des Thronsaals. Lyras Herz klopfte bis zum Hals und Glück durchströmte ihren Körper. Kurz atmete sie tief durch, bevor sie die Tür langsam aufdrückte. Kaum eröffnete sich ihr der Einblick in den Thronsaal, richteten sich alle Blicke auf sie. Die Berater ihres Bruders, Generäle und Diener. Jedes Augenpaar lag auf ihnen. Dann, aus der Menge quetschte sie eine wohlbekannte Person.
Bevor Lyra richtig verstehen konnte, dass es tatsächlich Arthur war, den sie dort erblickte, setzten sich ihre Beine in Bewegung. Das war ihr Bruder. Ihr Bruder, den sie liebte und verehrte. Lyra sprang die letzten Meter und landete stürmisch in Arthurs Armen. Der Feuergott mit den langen roten Haaren und den braunen, hilfsbereiten Augen umarmte sie innig. Fest zog er sie an sich, drückte sie, als könnte sie jeden Moment verschwinden. Tränen füllten seine Augen, flossen über seine gebräunte Haut und tropften auf ihre Schulter. Erneut verstärkte sich seine Umarmung und dann brach Lyra in Schluchzen aus. Vor ihm brauchte sie keine Masken. Sie musste nicht stark sein. Sie musste nicht die Anführerin spielen. Sie konnte weinen, verzweifeln, fluchen und Arthur würde alles annehmen und sie trotzdem dafür lieben. Wie lange hatte sie sich zurückgehalten? Wie lange hatte sie die Tränen unterdrückt? Wie lange hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt? Die vielen Kämpfe, all der Schmerz, all die Verzweiflung, plötzlich verstand sie wieder, warum sie so verbissen gekämpft hatte. Ein Stück Selbstsüchtigkeit war in ihrer Handlungen gewesen. Der Wunsch wieder mit Arthur vereint zu sein. Es gab eine Zeit, in der sie gedacht hatte, dass es kein glückliches Ende für sie gab, aber man hatte sie eines Besseren belehrt. Nie wieder würde sie zulassen, dass man ihr ihren Bruder raubte. Nie wieder, denn ohne ihn wäre sie nicht komplett.
»Es tut mir so unendlich leid, Lyra. Ich habe Schreckliches getan«, flüsterte Arthur. Seine Stimme war von Tränen untermalt. Sie erkannte, wenn er versuchte, sich zurückzuhalten, aber im Moment spielten seine Schandtaten keine Rollen. Wichtig war nur, dass sie wieder vereint waren. Endlich waren sie wieder die Zwillingsgötter, als die man sie erschaffen hatte.
Lyra schüttelte den Kopf. Ihre Finger klammerten sich an sein Hemd. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, beruhigte sie. Das hatte sie schon immer, wenn sie am Abgrund stand. Es war ein Zeichen dafür, dass alles gut werden würde. Dass sie bis in alle Ewigkeiten füreinander da wären, egal, was mit der Welt um sie herum geschah. »Es ist in Ordnung. Du musst dich nicht entschuldigen. Bitte, geh einfach nur nicht. Verlass mich nie wieder. Ich war so einsam ohne dich. Arthur, bitte, versprich mir, dass du mich nie wieder alleine lassen wirst.«
Der Feuergott löste seinen Griff und drückte seine Stirn gegen Lyras. Erst mied sie ihre Blicke, dann legte er seine Hände an ihre Wangen und wischte sanft ihre Tränen weg. Vorsichtig nahm sie Blickkontakt auf. Rot und Blau. Eis und Feuer. Zwei Seiten einer Medaille. Bis in alle Ewigkeiten verbunden mit einem Band, das keine Macht dieser Welt zerstören könnte. Dicker als Blut und Wasser. »Ich schwöre es.«
DU LIEST GERADE
Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...