Seit Kains letztem Besuch hatte sich das Totenreich kaum verändert. Auffällig war nur die schwüle Luft, die ihnen bereits entgegenstieß, lange bevor sie den Küstenstreifen am Horizont erblickten. Nur wenig später erkannten sie die ersten Infernos und je weiter sie vordrangen, desto deutlicher wurden die Schreie der Sünder. Hinter riesigen Mauern, wie Käfige, die das Feuer zügelten, schmorten Seelen, zerfielen zu Asche, nur um einen weiteren Kreislauf des Leidens zu erleben. Beim Anblick der Flammen verkrampften sich Kains Hände. Fest bohrten sich seine Finger in die Reling, sodass er das Holz unter seinen Nägeln kratzen spürte. Drei Jahre war es her, seitdem diesen Anblick zum letzten Mal gesehen hatte. Seitdem er den knochigen Strand erblickt hatte und die roten Dünen, die sich hinter den feurigen Zellen erstreckten. Das Bild, das sich ihm bot, konnte geradewegs seinen Erinnerungen entspringen. In den drei Jahren hatte sich nichts verändert, als hätte jemand die Zeit angehalten.
»Das Totenreich.« Die Krähe drehte sich um, als er Lyras Flüstern neben sich vernahm. Ihre Stimme zeigte nur einen Bruchteil der Ehrfurcht, die sich in ihren Augen widerspiegelte. Das Blau kontrastierte mit dem lodernden Rot der Flammen.
»Es hat sich nicht ein Stück verändert.« Kain richtete seinen Blick auf die Türme des Palastes, dessen Konturen in der Ferne erschienen. Mit den Unterarmen stützte er sich auf der Reling ab und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als könnte er dadurch weitere Details erkennen. Möglicherweise täuschte ihn sein Gefühl, aber das Totenreich schien noch imposanter. Die Hitze hatte zugenommen und das Feuer loderte so hell wie nie zuvor. Während das Reich der Engel erfror, die Ätherströme zu erstarren begannen, erstrahlte Lucifers Herrschaftsgebiet in neuem Glanz.
Lyra gab ihm einen kurzen Seitenblick, bevor sie sarkastisch auflachte. »Die Erinnerungen an meine Erschaffung sind verschwommen, aber wenn ich darüber nachdenke, nichts hätte mich auf diesen Anblick vorbereiten können. Erstmal beneide ich Arthur um seine Feuerkräfte. Mein Eis wird es unter diesen Temperaturen schwer haben.«
»Du hast recht. Nichts kann uns auf das Kommende vorbereiten. Auch wenn ich es nur ungern zugebe, unsere Karten stehen schlecht. Keiner weiß, wie mächtig Lucifer tatsächlich ist.« Bei dem Gedanken, in die scharlachroten Augen des Urgotts zu blicken, überzog eine Gänsehaut Kains Körper. Damals war er allein gewesen, aber im Gegensatz zu heute, hatte er einen Plan besessen. Und was blieb ihnen? Einzig und allein der Glaube, etwas gegen Lucifer ausrichten zu können.
»Wir schaffen das.« Zuriel gesellte sich neben ihn. Anscheinend hatte er den Befehl zum automatischen Anlegen abgegeben. So konnten sie einen Moment der Ruhe fassen, bevor sie ihre Füße in den knochigen Sand setzen würden. Sobald sie das Totenreich betreten hatten, galt höchste Vorsicht. Auch wenn Zaz erklärt hatte, dass Lucifer sie im Thronsaal empfangen würde, sie konnten den Worten des Feindes nicht vertrauen. Sein Stolz verbot Kain wie ein blindes Rehkitz in seine Falle zu laufen.
Auf Lyras Lippen erschien ein leichtes Lächeln und sie wuschelte dem Halbengel durch die Haare. »Was würden wir nur ohne deine positive Art machen, Zuri.«
Kain spitzte die Lippen. Vielleicht sollte er versuchen, seinen Freund ebenfalls beim Spitznamen zu nennen. Oder klänge das albern? Spitznamen zu verwenden, passte nicht zu seinem Charakter. Zumindest nichts Niedliches wie Zuri. Aber wie könnte er ihn stattdessen nennen? Viele nannten ihn bei seinem Pseudonym, aber er konnte Zuriel nicht als Engel bezeichnen. Das wäre nicht nur missverständlich, sondern auch abwertend. Der Auftragsmörder seufzte. Worüber machte er sich bitteschön Gedanken? »Leider helfen positive Gedanken in einer solchen Situation wenig.«
»Du bist gemein«, beschwerte sich Zuriel, bevor er ihm freundschaftlich in die Seite boxte. Sein Lächeln steckte an, aber es verschwand, kaum gelangte das Schiff zum Stillstand. Der Moment der Entscheidung war gekommen.
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...