Kapitel 7.3 - Eisige Freundschaft

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Ursprünglich scheute Kain die Gesellschaft anderer Menschen. Weder in großen Gruppen, noch in vertrauter Zweisamkeit fühlte er sich wohl. Bei Berührungen verhielt es sich genauso. Selbst ein einfaches Schulterklopfen ließ seine Muskeln verkrampfen, allerdings gewöhnte er sich langsam an Alice. In den letzten zwei Monaten war es beinahe zum Alltag geworden, dass sie sich ständig in seiner Nähe befand. Anfangs hatte er noch versucht ihr aus dem Weg zu gehen, aber irgendwann hatte er es aufgegeben und hingenommen. Das Dienstmädchen war unglaublich stur, wenn es darum ging ihren Willen durchzusetzen. So gesehen erinnerte ihr Verhalten an das eines Kindes, dem man den Nachtisch verweigert hatte, gleichzeitig schien sie in ihren Worten und Taten reifer zu sein, als er es war. Zu seinem Glück hatten auf die Annäherungsversuche in der Bibliothek keine weiteren gefolgt, trotzdem hatte sie es nicht aufgeben, ihm ein Lächeln zu entlocken. Aber Kain war hart geblieben. Er fühlte sich nicht nach einem Schmunzeln, also tat er es auch nicht.

Der heutige Tag bildete keine Ausnahme, weswegen es Kain auch nicht verwunderte, als er ihr Gesicht hinter dem Eingangstor auftauchte. Ausnahmsweise trug sie keine geflochtenen Zöpfe, die ihre feuerrote Mähne zähmten, stattdessen fiel ihr Haar seidig herunter bis zu ihrer Brust, wobei sich der Ansatz von Locken erkennen ließ. Wie immer begrüßte sie ihn mit einem Grinsen, das ihre vollen Lippen kräuselte, während sie ihm bereits von Weitem zuwinkte.

Kain erwiderte nichts. Stattdessen verließ lediglich ein Seufzen seinen Mund, das wie eine einsame Melodie im Heulen des Windes verschwand. Der Himmel über ihm hatte sich schon vor Minuten verdunkelt und die grauen Wolken bildeten einen dicke Schicht, durch die kaum ein Sonnenstrahl drang. Auch die Temperaturen waren gesunken, kündigten einen baldigen Schauer an.

»Wie war es in der Schule?«, fragte Alice, kaum hatte er die letzten Meter zu ihr überbrückt. Allerdings blieb er nicht stehen, stattdessen setzte er seinen Weg unbekümmert fort. Nur einen kurzen, auffälligen Seitenblick schenkte er ihr.

»Wie immer«, antwortete die Krähe und vergrub seine Hände in den Seitentaschen seines Mantels. Trotz der Handschuhe, die seine Narben verdeckten, schnitt die Kälte in seine Haut, bis es sich anfühlte, als würden schwache Flammen sein Fleisch verbrennen.

Alice warf ihm einen vielsagenden Blick zu, bevor sie zu ihm aufschloss. »Ich habe mich in dir getäuscht. Du bist nicht nur ein Miesepeter, sondern besitzt auch ein Herz aus Eis.«

»Danke für das Kompliment«, gab Kain mit einem gehässigen Unterton zurück und pustete sich eine einzelne Strähne seines Haares aus der Sicht.

Das Dienstmädchen konterte mit einem leichten Stoß in die Seite, das Kain nur mit Hochziehen einer Augenbraue kommentierte. Gleichzeitig bedeutete er ihr mit einer Bewegung seines Kopfes die Tür zu öffnen. Alice leistete der Aufforderung Folge und ließ ihm den Vortritt, bevor sie ebenfalls ins Warme huschte. Drinnen legte Kain erst seine Tasche ab, bevor er den schweren Mantel am Kleiderhaken aufhing. Zum Schluss verstaute er seinen Schal in einem der etlichen Schränke.

»Dürfte ich sie sehen?« Alice trat zu ihm, noch bevor er sich zu seinem Zimmer begeben konnte. Dabei deutete sie auf seine Arme und Beine.

Kain wusste, was sie wollte, da sie diese Frage täglich stellte. Mit einem genervten Blick setzte er sich auf einen Hocker, der mit rotem Samt bezogen war. Sofort krempelte er seine Hose bis zu den Knien hoch und offenbarte ihr seine bleiche Haut, die einen nahezu unnatürlichen Kontrast zu den dunklen Narben bildete. Es waren Striemen, die durch Peitschenhiebe entstanden waren, während auch die ein oder andere alte Wunde eines Messerstiches zu erkennen war.

Alice hockte sich vor ihm hin und betrachtete seine Beine. Die Meisten hätten seinen Anblick als abstoßend empfunden, aber sie hatte sich nie daran gestört. Sie nahm es hin, egal wie verunstaltet sein Körper war. Eine Tatsache, die ein seltsames Gefühl in Kains Brust auslöste. Ein Gefühl, das er nicht zu deuten wusste, aber da es keinesfalls negativ war, protestierte er nie, wenn sie verlangte seine Arme und Beine zu sehen.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt