Kapitel 10.3 - Die Lügen eines Engels

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Als Kain am nächsten Tag aufwachte, lag Zuriel noch immer schlafend auf seiner Matratze. Bei dem Anblick, wie sich sein Brustkorb gleichmäßig hob und senkte, kamen die Erinnerungen der gestrigen Nacht wieder. Auch wenn es nötig gewesen war, um dafür zu sorgen, dass der Schmied die Geschehnisse nicht ausplaudern würde, so sorgte der Gedanke doch dafür, dass ihm übel wurde. Aber letztendlich hatte diese Umarmung nichts zu bedeuten. Sie war weder ein Zeichen von Mitgefühl, noch von Sympathie. Dabei verbannte er gekonnt die seltsame Wärme, die ihn überkommen hatte, aus seinem Gedächtnis. Dass er dabei drohte, sein Herz zu täuschen, spielte keine Rolle. Das unlösbare Puzzle an Scherben würde nie Heilung erfahren. Die einzige Möglichkeit war, dass die Splitter weiter zerbrachen. Positive und vertrauensvolle Gefühlen waren sein ganz persönliches Gift. Sie fraßen sich in seine Seele wie Säure.

Der Auftragsmörder wandte seinen Blick ab und fuhr sich übers Gesicht. Er bereute seine Entscheidung, auch wenn sie nötig gewesen war. Mit mehr Zeit wäre ihm vielleicht eine bessere Lösung eingefallen, doch dafür war es nun zu spät. Die Vergangenheit konnte man nicht ändern. Nicht einmal die Urgötter vermochten ein derartiges Wunder zu vollbringen. Letztendlich blieb ihm also nichts anderes übrig, als damit zu leben. Schon immer war sein Weg von Steinen und Felsen versperrt gewesen. An dieser Kleinigkeit würde er nicht scheitern.

Mit einem letzten Seufzen drehte sich die Krähe um und erhob sich. Die dreckige Wäsche, die den Korb zuvor bis zum Überlaufen gefüllt hatte, war gewaschen worden und gerade als er die Knöpfe seines Hemdes öffnete, fiel sein Blick auf seinen Mantel. Ordentlich gefaltet lag er in einer Ecke, woraufhin Kain ein weiteres Seufzen entfloh, das in der Stille verschwand wie das Flüstern des Windes. Im Laufe der Zeit hatte sich die Farbe Schwarz zu seinem Markenzeichen entwickelt, zumal auch Krähen ein dunkles Gefieder trugen. Gleichzeitig fühlte er sich in der finsteren Farbe am wohlsten. Durch sie war er in der Nacht beinahe unsichtbar wie ein Phantom, das in den Gassen einer Stadt sein Unwesen trieb.

Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Zuriel, der mit ausgebreiteten Armen seine gesamte Matratze in Anspruch nahm, verließ Kain das Zelt und trat an die frische Morgenluft. Sofort nahm er einen tiefen Atemzug und streckte sich ausgiebig, während die Sonnenstrahlen auf seiner Haut kitzelten. Obwohl er erst spät eingeschlafen war, bestimmte keinerlei Müdigkeit mehr über ihn. Stattdessen fühlte er sich deutlich entspannter und kraftvoller. Seine Muskeln schmerzten nicht mehr und auch die dunklen Augenringe waren verschwunden.

Nachdem seine Wirbelsäule ein lautes Knacken von sich gegeben hatte, machte sich Kain auf zur Küche. Da er etwas später ankam als sonst, musste er nicht lange warten, bis er sein Essen bekam. Eine braunhaarige Frau, gekleidet in dunkler Hose und weißem Oberteil, überreichte ihm zwei Scheiben Brot, zusammen mit etwas Obst, woraufhin sich Kain zu den anderen Mitgliedern begab. Zwar war er noch immer nicht daran interessiert Freundschaften aufzubauen, doch die gestrigen Geschehnisse hatten ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass er wenigstens den Anschein machen musste, zu einer festen Gruppe zu gehören. Möglicherweise war es Wunschdenken, doch es könnte helfen, den Verdacht gegen ihn einzuräumen.

An den vielen Tischen, die sich unter einer Plane erstreckten, herrschte reges Treiben. Überall wurde geredet und gelacht und bei genauerem Betrachten erkannte Kain, dass nur noch wenige Plätze frei waren. Zuerst war er unentschlossen, doch schließlich setzte er sich an einen Tisch, an dem einige Personen saßen, die er vom Training kannte. Bisher hatten sie nur wenige Worte gewechselt und Kain kannte nicht einmal ihre Namen, aber das spielte keine Rolle, denn sie nahmen ihn freundlich auf. So setzte er ein Lächeln auf, bevor er gezwungenermaßen ein Gespräch anfing. Zumindest half es ihm auf andere Gedanken zu kommen, unabhängig davon, ob es ihn interessierte, wie streng Kenshin doch sein konnte.

So vergingen einige Minuten und gerade biss Kain zum letzten Mal von seinem Brot ab, da schlangen sich zwei Arme sich um ihn. Noch im selben Augenblick begrüßte Zuriel ihn freudig, wobei seine Berührung derart überraschend kam, dass sich Kain verschluckte. Als Folge hustete er kräftig, woraufhin der Schmied seine Umarmung auflöste. Sofort klopfte ihm einer der Mitglieder kräftig auf den Rücken, bis das ekelige Gefühl aus seinem Hals verschwand.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt