Kapitel 15.1 - Das Land der Engel

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Das Land der Engel

Das große Tor, das den Eingang des Palastes zeichnete, öffnete sich knarrend. Mithilfe von Runen, die Beschwörungsformeln bildeten und einigen kleinen Ätherkristallen benötigte es nur ein einfaches Wort, damit der Mechanismus automatisch verlief. Kain und die Engel standen auf der steinernen Brücke, die über einen gefrorenen Fluss führte, welcher den Palast umrahmte. Am Hohlkasten der Brücke hingen etliche Eiszapfen und an beiden Enden fanden sich traditionelle Laternen, ebenso so edel wie das Schloss. Sie warfen warmes Licht auf die Umgebung und ließen den Schnee wie Sterne glitzern.

Während sich das Tor öffnete, strömte Wärme nach draußen, die Kain dankend empfing. Erst hinterließ sie ein brennendes Gefühl auf seiner Haut, doch schnell gewöhnte er sich an die Temperaturen und atmete erleichtert auf. Vor ihm lag ein Gang, der mit einem dunkelgrauen Teppich ausgekleidet war. Die Wände bestanden aus weißem Marmor und formten an den unzähligen Torbögen Statuen, die wie Engel aussahen. An der Decke schwebten Kronleuchter, die anstelle von Diamanten mit Ätherkristallen besetzt waren. Sie warfen ein liebliches Lichtspiel auf den Gang, das eine beruhigende Wirkung ausstrahlte. Es gab einige Abzweigungen, die in weitere Gänge führten.

Zwei Wachen traten nach draußen. Sie trugen weiße Rüstungen mit goldenen Elementen. Ihr Helm offenbarte lediglich die Augen und einen kleinen Teil ihres Gesichtes, durch einen Spalt, der vertikal über ihr Gesicht verlief. Die Verzierungen, die darauf abgebildet waren, zeigten Flügel wie die Schwingen eines Vogels. Auf ihrer Brustpanzerung befand sich das Wappen der Engel aus violettem Äther eingraviert, während sie an ihren Hüften Schwerter trugen, die wertvoller aussahen, als jede Waffe, die Kain bisher gesehen hatte.

»Die Herrin erwartet euch bereits«, sagte der erste Soldat und deutete in den Gang, der vor ihnen lag. »Wenn Sie es wünschen, nehmen wir Ihnen den Gefangenen ab.«

Kain hob die Augenbrauen und beobachtete Mariel aus den Augenwinkeln. Um ehrlich zu sein, hoffte er sehr, dass er und seine Kameraden ihn gehen lassen würden. Gegen zwei Engel besaß er bessere Chancen, allerdings war es unwahrscheinlich, dass er auf das Angebot eingehen würde.

Mariel überlegte für einen Moment, bevor er den Kopf schüttelte. »Wir werden ihn eigenhändig der Herrin überbringen, trotzdem solltet ihr euch am Tor positionieren. Man kann nie vorsichtig genug sein.«

Kain verdrehte die Augen, während die Soldaten zustimmend nickten und sich links und rechts des Tors flankierten. Damit sank die Wahrscheinlichkeit, dass eine Flucht gelingen würde, in den Minusbereich. Zuerst brauchte er einen Überblick über die Architektur des Gebäudes. Vielleicht schaffte er es sogar einen der Soldaten zu überwältigen und er könnte getarnt durch die Rüstung einfach aus dem Palast spazieren. Aber selbst für ihn klang das zu einfach.

Lepha packte ihn an der Schulter und schubste ihn, sodass Kain ein paar Schritte stolperte. Als er zurücksah, deutete sie in die Richtung, in die sie gehen mussten. Widerwillig tat Kain das, worum sie gebeten hatte und setzte sich in Bewegung. Dabei zeigte Mariel ihm den Weg, während Lepha und Raphael hinter ihm hergingen. Sie schritten auf dem langen Teppich den Gang entlang. Hin und wieder schmückten Kunstwerke die Wände. Sie zeigten blutige Schlachten zwischen Engeln und Dämonen, wie ein erbitterter Krieg Reamo erschütterte. Andere zeigten zwei schemenhafte Gestalten, die ihre Energie auf einen Menschen konzentrierten. Die anderen Werke waren nicht allzu schwer zu deuten. Sie zeigten die Gründung Reamos, wie erste Götter zu den Menschen herabstiegen und fortan über sie regierten. All das hatte er in der Schule gelernt. Wenngleich immer weniger Menschen an die Existenz von Engeln und Dämonen glaubten, war der Glaube an die Urgötter unerschütterlich. Jedes Kind bekam gelehrt, wen wir für unser Leben huldigen sollten. Inido nahm es mit dem Glauben nicht allzu ernst, doch in Fonsan beispielsweise gab es ganze Versammlungen, in denen die Urgötter angebetet wurden. Kain würde niemals an einer solchen Versammlung teilnehmen. Er glaubte nicht an Urgötter. Er wusste, dass es ihn gab. Ein entscheidender Unterschied.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt