Als Kain seine Augen öffnete, fand er sich im Dunkeln einer Zelle. Schwer hob er seinen Kopf und blickte durch die Gitterstäbe in einen spärlich beleuchteten Gang. Die anderen Zellen waren leer und als er lauschte, hörte nichts außer seinen eigenen Atem. Der Auftragsmörder fasste sich an den Kopf, wischte sich das Haar aus der Stirn. Was war geschehen? Sie hatten gegen Lucifer gekämpft und der Urgott hatte ihnen die Wahrheit offenbart. Arthur stand unter seiner Kontrolle und Zuriel war eine seiner Marionetten. Stöhnend legte er den Kopf in den Nacken und rutschte an der kalten Wand zusammen. Dann ballten sich seine Hände zu Fäusten. Sofort stiegen Tränen in seine Augen. Seine Unterlippe begann zu zittern, bevor er sein Gesicht an dem Stoff seines Mantels abputzte. Er konnte es noch immer nicht glauben.
Ohne, dass er den Befehl dazu gab, drang ein Schluchzen aus seiner Kehle. Sofort presste er den Mund zusammen und vergrub seinen Kopf in seinen Armen. Nein, auch wenn er sich kurzzeitig beruhigt hatte, Zuriels Verrat war nichts, was einfach so abtun konnte. Wie könnte er auch? Die Wahrheit hatte ihn härter getroffen als die Munition seiner Pistole. Von diesen Narben konnte er sich nicht erholen. Zumindest nicht alleine. Dafür war er zu schwach. Um dieses schreckliche Gefühl loszuwerden, musste er Lucifers Ketten sprengen und ihre Freundschaft Realität werden lassen. Nur auf diesem Weg würde er wahrhaftige Heilung erfahren.
Viel wichtiger in diesem Moment war, wo er sich befand. Obwohl es sich um ein Gefängnis handelte, war seine Zelle ungewöhnlich groß. Dennoch befand sich in den Wänden keine Fenster, was darauf schließen ließ, dass er sich unter der Erde befand. Lucifer musste ihn nach ihrer Niederlage hierhin verschleppt haben. Vielleicht lag Lyra bewusstlos in einer der anderen Zellen, zumindest hoffte er es.
Der Auftragsmörder löste sich von der steinernen Wand und kroch über den dreckigen Boden zu den Gitterstäben. Die Abstände waren zu schmal, als dass er seinen Kopf hindurch strecken könnte, aber wenn er sich mit der Stirn gegen das Eisen presste, erhielt er einen einigermaßen guten Blick auf den Gang. Die Fackeln unterstrichen seine gespenstische Stimmung. Überall fanden sich dunkle Ecken, wie Monster, die nur auf eine passende Gelegenheit warteten.
»Lyra?« Kain lauschte, doch keine Antwort kam zurück. »Lyra, bist du da?« Erneut erhielt er keine Antwort. Seufzend löste er sich von dem Gitter. Also hatten sich seine Ohren nicht getäuscht. Was hatte er auch erwartet? Das Lucifer ihn zusammen mit Lyra in eine Zelle schmiss, damit sie gemeinsam ihre Flucht planen könnten?
Abermals legte er die Krähe seinen Kopf in den Nacken. Ohne eine Waffe und ohne Ätherkristalle war er machtlos. Selbst wenn es ihm gelingen würde, die Gitter zu zerbrechen, Lucifer würde ihn nicht weit kommen lassen. Seine Situation brachte das Verständnis von Machtlosigkeit auf ein ganz andere Stufe. Also war tatsächlich alles verloren? Einfach aus, einfach vorbei? Nun, eigentlich hatte er sich damit schon abgefunden. Lediglich Zuriels Worte lagen ihm schwer im Magen. Das war doch dämlich. Der Schwarzhaarige biss sich auf die Lippe. Allein der Gedanke an den Halbengel ließ seine Dämme brechen wie ein Unwetter. Selbst wenn er versuchte, sich abzulenken, seine Gedanken glitten immer wieder zu ihm. Wo er sich nun befand? Mit Sicherheit stand er gerade an Lucifer Seite und lachte über seine Naivität ihm zu vertrauen. Nein, das stimmte nicht. Zuriel hatte nichts von seiner Manipulation gewusst. Er glaubte fest daran, dass ihre Freundschaft echt gewesen war, nur Kain fiel es schwer, das zu glauben. Wie sollte er auch? Sein komplettes halbe Jahr war eine Lüge gewesen. Eine einzige verdammte Lüge. Für ihn war vertrauen schon immer schwer gewesen, aber nun viel es ihm schwerer als jemals zuvor. Aber Zuriel zurücklassen konnte er auch nicht. Sich umzudrehen würde die Wunden weiter aufreißen. Wie sollte er sich nun verhalten? Sein Gemüt spaltete sich in zwei Hälften und beide Seiten lockten ihn mit verführerischen Argumenten. Er hatte Angst, erneut betrogen zu werden, dass der echte Zuriel niemals mit ihm harmonieren konnte. Aber vielleicht war das nur eine Ausrede vor dem wegzurennen, dem er sich eigentlich stellen sollte. Vielleicht, aber wenn sich seine Befürchtung als Wahrheit herausstellen sollte? Dann wäre es vorbei. Vollkommen. Also war es besser an den Splittern festzuhalten, vor seiner Vergangenheit zu fliehen und sich nie wieder umzudrehen, da es andernfalls zu seinem Untergang führen könnte? Aber glich diese Vorgehensweise nicht seinem alten Ich? Er war nicht mehr die Krähe, dessen einzige Gedanken sich um das Morden drehten. Er war nun eine neue, andere Person. Jemand Besseres, der an sich arbeiten wollte. Das hatte Zuriel ihm gelehrt.
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Die blutrote Krähe
Fantasy»𝐾𝑟𝑎̈ℎ𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑠𝑠𝑒𝑛, 𝑤𝑖𝑒 𝑒𝑠 𝑖𝑠𝑡, 𝑢̈𝑏𝑒𝑟 𝐿𝑒𝑖𝑐ℎ𝑒𝑛 𝑧𝑢 𝑔𝑒ℎ𝑒𝑛.« Das Land Inido wird durch die Zwillingsgötter Lyra und Arthur gespalten. Während Arthur allmählich dem Wahnsinn verfällt und die Herrschaft des gesamten Kontine...