Kapitel 20.1 - Blutfluch

398 35 72
                                    

Blutfluch

»Bist du dir sicher, dass das funktioniert?« Argwöhnisch zog Kain die Augenbrauen zusammen, während er Zuriel dabei beobachtete, wie er das magische Ritual vollzog, das seine Aura für eine Weile an diesem Ort festbinden würde. Der Halbengel hatte eine ähnliche Methode genutzt, um seine Aura zu verdecken, andernfalls wäre er den Engeln schon längst in die Arme gelaufen. So konnten sie sich unbemerkt fortbewegen, allerdings war der Zauber kompliziert und benötigte einiges an Vorbereitungszeit.

Als Antwort bekam Kain einen mahnenden Blick, woraufhin er gelangweilt die Augen verdrehte und sich an die Wand lehnte, wo er zuvor aus dem Tod erwacht war.

Mit einem Stück Kreide, das Zuriel aus seinen Hosentaschen geholt hatte, schrieb er magische Formeln auf den Boden. Es waren fünf an der Zahl. Zwei davon kannte Kain, die anderen hatte er noch nie gesehen. Vermutlich handelte es sich um Magie, die nur den Engeln bekannt war. Das erste Zeichen erinnerte an einen Stern, wobei die Enden jeweils so verlängert waren, sodass die Linien nicht akkurat aufeinandertrafen. Das Symbol wies starke Ähnlichkeiten mit dem Zauber auf, den er damals genutzt hatte, um die Seelen in den Körpern seiner Opfer verweilen zu lassen. Ein Halbkreis umschloss das Gebilde, während die Rune durch zwei Dreiecke, die mit ihrer Spitze auf den Stern zeigten, ihren finalen Schliff bekam. Dies war der entscheidende Unterschied zu der Formel, die er damals benutzt hatte. Diese hatte anstelle von zwei Dreiecken vier besessen, wobei jedes einzelne in eine andere Himmelsrichtung zeigte. Da sowohl der Leviathan als auch Zaz die Seelen von Menschen verschlangen und sich ansonsten von nichts ernährten, war der menschliche Geist für sie eine Leibspeise. Zwar bestand noch immer einen hohes Risiko verschlungen zu werden, doch Kain hatte Glück gehabt und die Überquerung des Meers der singenden Seelen überstanden.

»Gib mir noch eine Minute«, murmelte Zuriel, während er den letzten Strich beendete. Zufrieden betrachtete er sein Werk, während er mit seinen Blicken die Linien nachfuhr, um sicherzugehen, dass er keinen Fehler gemacht hatte. Anschließend stemmte er zufrieden die Hände in die Hüften und sah auffordernd zu Kain.

Sofort stieß der Auftragsmörder ein Knurren aus, doch auf einen weiteren mahnenden Blick hin, streifte er die Uhr von seinem Handgelenk. Es brachte nichts. Diese Diskussion hatten sie bereits einmal geführt. Für das Ritual brauchte Zuriel einen Gegenstand, der eng mit ihm verbunden war. Andernfalls würde nicht die Illusion entstehen, dass sich Kain noch immer in seiner Zelle befand. Ursprünglich wollte Zuriel seinen Mantel nutzen, doch dagegen hatte sich der Auftragsmörder gesträubt. Zwar war er bereit einen Kompromiss einzugehen, doch sein Mantel war ihm heilig. Freiwillig würde er sich niemals von ihm trennen.

»Da«, murrte die Krähe, als er die Uhr in Zuriels ausgestreckte Hand legte. Der Schmied erwiderte mit einem einfachen Schmunzeln, bevor er sie ins Zentrum der Runen positionierte. Danach erhob sich der Halbengel und seine braunen Augen bekamen eine goldene Färbung. Inzwischen hatte der Auftragsmörder herausgefunden, dass es sich um eine natürliche Reaktion seines Körpers handelte. Das himmlische Blut in seinen Venen war nicht zu leugnen. Wann immer er Magie wirkte, musste er seine himmlische Herkunft offenbaren.

Nach einem letzten Zögern begann Zuriel die Zauberformel zu sprechen. Seine Magie verteilte sich im Raum und ein Windzug zerrte an Kains Haaren. Nun, da sich Zuriel nicht mehr zurückhalten musste, verstand die Krähe endlich, welche ungeheure Macht der Schmied besaß. Obwohl seine Kraft nur ein warmes Prickeln auf seiner Haut zurückließ, überkam ihn eine Gänsehaut. Allein die Tatsache, dass er einen so mächtigen Zauber aussprechen konnte, ohne die Kontrolle zu verlieren, war bewundernswert. Wie stark musste sein Vater gewesen sein, wenn er höchstens die Hälfte seiner Kraft besaß?

Zuriels Worte hallten wie ein Echo durch den Raum. Seine Stimme klang in Kains Ohren wider und offenbarte mit jeder Silbe seinen übernatürlichen Ursprung. Der Wind wurde stärker, so stark, dass der Auftragsmörder sich mit ganzer Kraft dagegen stemmen musste. Seine Augen tränten von der Kälte, weswegen er mehrmals blinzeln musste. Schließlich verschwand das warme Prickeln und wurde gänzlich von dem eisigen Gefühl verschlungen. Glücklicherweise kam Zuriel gerade am Höhepunkt des Zaubers an und als die Runen in einem goldenen Licht zu leuchten begannen, legte sich der Wind. Zurück blieb ein Kain, dessen Frisur vollkommen zerstört war.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt