Kapitel 6.1 - Ein Schlag, der Spiegel zertrümmert

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☬ Ein Schlag, der Spiegel zertrümmert ☬

Es war derselbe Flur wie jeden Tag, derselbe Weg, den er jeden Montag gehen musste. Gleich würde er eine Prüfung ablegen, damit die Schule ihn gemäß seines Leistungsstands in die entsprechende Gruppe einordnen konnte, aber motiviert war er nicht. Es war klar, dass er nicht zu der Elite gehören würde, deswegen könnte er auch eine schlechte Note schreiben. Letztendlich würde ihn seine Mutter ohnehin bestrafen und erneut würden die Peitschenhiebe auf seine blanke Haut eindonnern, stärker als ein Messer, das sich in sein Fleisch rammte. Wie viele Stunden würde er wohl dieses Mal in der kleinen Kammer verbringen müssen? Ohne Essen und ohne Licht, das seine Umgebung wenigstens etwas erhellte, auf dem kalten und dreckigen Boden, bis Finsternis seine Welt noch schwärzer färbte.

Mit einem Seufzen, das kaum hörbar seine Lippen verließ, bog der Schwarzhaarige in einen weiteren Gang ein. Die Strecke bis zum Klassenraum schien sich zu dehnen und zu ziehen, als hätte jemand mit Magie die Zeit verlangsamt. Schritt für Schritt begab er sich durch den weiß gestrichenen Flur, während er versuchte das Gespött seiner Mitschüler zu überhören. Von überall schien das Getuschel zu ertönen. Leises Flüstern, das in seinem Kopf mit seltsamer Stärke widerhallte.

»Ich habe gehört, dass er Keira verprügelt hat«, murmelte ein Mädchen mit langen, braunen Haaren. Ihre grauen Augen beobachten Kain verstohlen, ohne den Ekel in ihrem Blick zu verdecken. Trotzdem war sie nur eines von vielen Augenpaaren, dessen Botschaft Abscheu war. Schon immer hatten seine Mitschüler diesen Ausdruck in ihren Gesichtern gehabt. Vielleicht war es in jungen Jahren anders gewesen, aber daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war wie ein Schleier, der sich um die wenigen glücklichen Momente seines Lebens legte und sie verdeckte, bis der Gedanke gänzlich erloschen war.

»Du meinst Keira aus Klasse Neun?«, hakte die Freundin der Braunhaarigen nach. Sie besaß blondes Haar, doch auch ihre Blicke entsprangen unergründlicher Wut. Kain glaubte sogar, dass sie in dieselbe Klasse gingen, aber an ihren Namen konnte er sich nicht erinnern. Warum sollte er auch? Sie war nur ein weiterer oberflächlicher Mensch, dessen Charakter so viel Tiefe besaß wie der Hügel, auf dem diese Schule stand.

Der Schwarzhaarige erhoffte sich das unschöne Gespräch auszublenden, so konzentrierte er sich auf den Ausblick, den die Fenster im zweiten Stock gewährten. Dadurch erkannte er den Schulhof und vereinzelte Schüler, die das Gebäude betraten. Sie alle gehörten zu einer Gruppe, besaßen Freunde und genossen ihr Leben. Wann immer Kain auf sie hinabblickte, brodelte etwas in seinem Inneren auf. Ein Gefühl, das sich explosionsartig in seinem Körper verteilte, bis es die Größe eines Infernos erreichte, das ungezähmt seine Flammen gegen den Himmel warf. Auch jetzt spürte er das Wüten der geformten Hitze und ohne, dass er es kontrollieren konnte, ballte er die Hände zu Fäusten. Er musste diese bösartige Energie loslassen, andernfalls drohte sie ihn zu verschlucken. Aber letztendlich würden beide Möglichkeiten dasselbe Ergebnis erreichen. Es zu unterdrücken, würde ihn allerdings vor zusätzlichen Konsequenzen schützen.

Kain atmete tief ein und zählte gedanklich von Zehn herab. Er hatte diesen Trick irgendwo mal aufgeschnappt und auch wenn diese Methode kein Wunder bewirkte, so besänftigte sie die Flammen ein wenig. Gleichzeitig entspannten sich seine Muskeln wieder, bis er seinen Blick von dem Fenster lösen konnte. Der Schwarzhaarige wandte sich um, wodurch die beiden Mädchen wieder in sein Sichtfeld rutschten.

»Man hat die beiden nach Schulschluss zusammen gesehen. Das war letzten Mittwoch. Seitdem war sie nicht mehr in der Schule.« Für Kain schien es beinahe unmöglich das Gespräch zu überhören, als er erkannte, dass sein Spind nur wenige Schritte neben den Schülerinnen lag. So mied er Blickkontakt und tat so, als würde er ihre Worte nicht hören. Sein Schauspiel trug Früchte, denn keine der beiden erkannte, dass Kain jeden Satz genau hören konnte.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt