Kapitel 26.3 - Schwarz und Weiß

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Als Kain in Zuriels bleiches Gesicht blickte, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Der Halbengel sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst in die Augen. Wo vor wenigen Minuten noch Gefühle getobt hatten, befand sich nun Leere. Er arbeitete für Lucifer. Zuriel arbeitete für Lucifer. Bevor er es verstand, sammelten sich Tränen in seinen Augen. Er wollte es nicht glauben. Er musste diesem toxischen Gedanken widerstehen, aber er konnte es nicht. Schwer und brutal rammte sich Lucifers Aussage in sein Herz. Heiße Tropfen flossen über seine Wangen, sein Brustkorb schmerzte und das Stechen in seinem Herzen wurde unerträglich. Dann verschwamm seine Sicht und er flüsterte mit zitternder, sterbender Stimme: »Stimmt das?«

Am liebsten wollte er Zuriel um den Hals fallen. Ihn bitten, dass es keine Lüge war. Dass ihre Freundschaft keine Lüge war, aber irgendwas, tief in seinem Inneren, schien bereits zu wissen, dass Lucifer die Wahrheit sprach. Also war alles nur gespielt gewesen? Die Begegnung im Wald? Ihre Umarmung im Zelt und seine Rettung? Aber es hatte sich so echt angefühlt. Jedes Lächeln, jeder gemeinsamer Moment. Alles hatte sich echt anfühlt, warum also? Warum musste sich jetzt als Lüge herausstellen? Bitte, Zuriel. Er musst ihm sagen, dass es nicht stimmte. Er musste ihm beweisen, dass ihre Freundschaft echt war. Bitte, Zuriel. Er brauchte ihn doch. Ihn, seinen besten Freund.

»W-Was?« Auf Zuriels Wangen fand sich kein Leben mehr. Der Schock saß tief in seinen Knochen, während sich sein Blick nicht von Kain abwenden konnte. An seinen Lippen konnte der Auftragsmörder erkennen, dass er schreien wollte. Das er alles abstreiten wollte, dass alles, was sie erlebt hatten, wahr gewesen war, aber irgendwas schienen die Worte in seiner Kehle stecken zu bleiben. Als würden sie ersticken, noch bevor er sie aussprechen konnte. Der Halbengel krümmte sich, fasste sich an die Brust und atmete schwer. Dann brach der Damm und er brüllte den gegnerischen Fronten entgegen: »Das ist eine Lüge! Ich würde nie... Ich würde Kain niemals verraten!«

»Das hast du aber.« Lucifers Stimme war nicht mehr ruhig. Sie war grässlich süffisant, ekelerregend und widerlich. Sie zeugte von der Gewissheit, dass alles funktioniert hatte. Dass er mit Kain gespielt hatte wie mit einer Schachfigur, trotzdem fehlte der Krähe die Kraft, ihm zu wiedersprechen. Er fühlte sich taub. Als wäre er gelähmt und er saß einfach nur da. Die Worte erneut zu hören, war schlimmer als beim ersten Mal. »Oder hast du jemals von einem Engel gehört, der ohne seine Ätherwurzeln überlebt hat?«

»Niemals! Du lügst! Das glaube ich nicht.«

»Wo liegt das Problem? Ich habe dich gerettet und als dein Retter habe ich jedes Recht über dein Leben zu verfügen. Du solltest mir danken. Ohne meine Kräfte wärst du jetzt nichts mehr, als eine Leiche im Ozean. Du bist ein Engel, was kümmern dich die Gefühle der Menschen? Was kümmern dich die Gefühle eines Mörders?«

Kain erinnerte sich an den Kampf gegen Candela. Die Hälfte von Zuriels Flügeln schimmerte schwarz. Es ergab Sinn. Sie waren ein Zeichen von Lucifers Magie. Nur weil ein Engel sich gegen Candela wandte, verfärbten sich seine Schwingen nicht. Es ergab Sinn. Das größte Puzzleteil fügte sich endlich zusammen, doch das Ergebnis war schrecklicher, als er jemals gedacht hatte. Lieber wäre er unwissend geblieben. Lieber hätte er weiterhin mit Zuriel seinen süßen Traum gelebt. Er wollte nicht, dass es falsch blieb. Er wollte nicht, dass alles eine Lüge blieb und trotzdem konnte er sich nicht von Zuriel lösen. Zuriel, sein bester Freund. Derjenige, der ihm eine vollkommen neue Welt gezeigt hatte. Er hatte die Scherben seines Herzens behutsam genommen und sie Stück für Stück wieder zusammengesetzt. Die Erinnerungen an ihn waren sein kostbarster Schatz. Etwas, das er niemals vergessen wollte, also warum? Warum stellte sich sein einziges Glück als Lüge heraus? Das Leben hatte ihm alles genommen, nur um ihn reichlich zu beschenken, bevor es ihn erneut am Abgrund zurückließ. Das war nicht fair. Das war nicht fair. Warum durfte er nicht glücklich sein? Warum durfte er keine Freundlichkeit erfahren? Warum hatte auch die letzte Person ihn ausgenutzt?

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt