Kapitel 7.2 - Eisige Freundschaft

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Durch die hauseigene Bibliothek hallte das gleichmäßige Schlagen der Standuhr, gefolgt von einem langen Seufzen und dem Rascheln der Seiten. Erneut sah Kain von dem offenen Buch auf. Seine Blicke suchten die Zeiger der Uhr, nur um abermals enttäuscht zu werden. Für einige Sekunden starrte er auf das Zifferblatt, in der Hoffnung, dass es endlich Neun schlagen würde. Erst dann wäre es ihm möglich, seiner persönlichen Hölle zu entfliehen.

Gelangweilt tippte er mit den Fingern seiner linken Hand auf die Tischplatte seines Arbeitsplatzes. Mit der anderen blätterte eine weitere Seite um, nachdem er den Inhalt nur überflogen hatte. Er besaß keine Veranlagung für Magie. Warum also musste er alles über die Geschichte und Entwicklung von Äther lernen? Da er kein Magier werden konnte, im Gegensatz zu seinem Vater, benötigte er weder Wissen darüber, dass es die Götter waren, die die energiegeladenen Kristalle erstmals eingesetzt hatten, noch Informationen über die komplizierten Verarbeitungstechniken, die man nur durch jahrelange Erfahrung perfektionieren konnte.

Kain überflog einen weiteren Abschnitt, indem beschrieben stand, dass Äther als Geschenk der Urgötter galt, bevor er das Buch mit einem lauten Knall zu schlug. Hörbar versuchte er sich zu beruhigen, doch die Frustration glich einem Parasiten, der sich in seinen Verstand eingeschlichen hatte. Noch bevor er selbst davon Kenntnis nahm, schleuderte er in seiner Wut die Lektüre gegen eines der vielzelligen Bücherregale, die in gleichmäßigen Abständen den Raum ausfüllten. Ein dumpfer Ton durchzuckte dabei die Stille, bevor es unsanft auf den dunkelroten Teppichboden landete.

»Ich weiß, dass du es hasst zu lernen, aber das hat das arme Buch nun wirklich nicht verdient.«

Augenblicklich schreckte Kain von dem Stuhl auf und richtete seine Haltung, nur um im Bruchteil einer Sekunde zu verstehen, dass es nicht seine Mutter war, die zu ihm gesprochen hatte. Ruckartig wandte er seinen Kopf, bis er schließlich erkannte, dass es Alice war, die wenige Meter hinter ihm stand. Auf Zehenspitzen hatte das Dienstmädchen die große, hölzerne Tür geöffnet, die den Eingang zur Bibliothek zeichnete. Sie grinste verstohlen, während sie in ihren Händen ein Tablett trug, auf dem eine Tasse Tee ihren Platz gefunden hatte.

»Ich dachte, das könntest du gebrauchen.« Alice stellte das Getränk auf dem Schreibtisch ab, ohne Kain dabei aus den Augen zu lassen, der sie noch immer entgeistert anblickte. Erneut entfloh ihren Lippen ein schwaches Schmunzeln und sie klemmte das nun leere Tablett unter ihren Arm.

Die Krähe entspannte sich, indem er einen tiefen Atemzug nahm und seine Lungen mit frischer Luft füllte. »Musstest du dich unbedingt anschleichen? Überhaupt, wer hat dir erlaubt mich zu duzen?«

Alice legte eine Hand an ihr Kinn und verzog ihre Lippen zu einer leichten Grimasse, bis sich ihr Gesicht aufhellte und ihr Grinsen noch ein Stück breiter wurde. »Lass mal überlegen.. Das war ich selbst.«

Kain erwiderte mit einem Grummeln, während er sich von seinem Arbeitsplatz abwandte und in einen Sessel fallen ließ, den man in einer Ecke platziert hatte: »Traue dich nicht zu viel, Aslem.«

Das Dienstmädchen folgte ihm und trällerte dabei herausfordernd: »Alice, mein Hübscher. Ich heiße Alice.«

In Gedanken zählte Kain von Zehn herab, um seine Wut zu unterdrücken, die wie ein Vulkan in seiner Seele brodelte. Dieses Mädchen raubte ihm wirklich die Nerven, aber anscheinend war das ein Merkmal des weiblichen Geschlechts.

»Sag mir, was du hier willst, Alice.« Ihren Namen sprach er nur gegen seinen Willen und mit einem finsteren Knurren in seiner Tonlage aus. Zeitgleich sah er zu ihr auf, sodass sich ihre Blicke kreuzten.

»Ich sagte doch bereits, dass ich nur gekommen bin, um dir einen Tee zu bringen«, antwortete sie mit einem Schulterzucken.

»So wie die letzten Male auch?«, hakte Kain nach und verdrehte die Augen. Tatsächlich war es nicht das erste Mal, dass Alice ihn aufsuchte. Seitdem sie ihn mit der Tatsache konfrontiert hatte, dass sie über seinen regelmäßigen Drogenkonsum Bescheid wusste, nervte sie ihn mehrmals am Tag, nur um ihm Kleinigkeiten wie Essen oder Trinken zu bringen, ohne dass er danach verlangt hatte. Es schien beinahe so, als wolle sie ihm bewusst näher kommen, doch die Mauern, die sich um sein Herz legten, glichen einer Festung, die durch nichts erschüttert werden konnte.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt