Kapitel 20.2 - Blutfluch

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Aus dem obersten Stockwerk zu verschwinden, war nicht sonderlich schwer. Es gab keine Wachen, die an den Treppen patrouillieren, so konnten Kain und Zuriel problemlos ins Innere des Hauptgebäudes gelangen. Dabei führte ihn der Halbengel zielstrebig durch die Gänge. Kain folgte ihm stillschweigend. Er wagte es nicht zu reden. Wachsam huschten seine Blicke durch die Flure, als würde er befürchten, jeden Moment auf Candela zu treffen, aber solange sie einen Bogen um den Thronsaal machten, war es unwahrscheinlich. Trotzdem linderte das Kains Nervosität nicht. Unter seinen Handschuhen fühlten sich seine Finger schwitzig an und ein Kloß steckte in seinem Hals.

Während sie ihren Weg fortsetzten, ertönten lediglich die Geräusche ihrer Schritte. Ansonsten war es vollkommen still und diese Stille war schlimmer, als ihre Flucht selbst. Kain konnte sich nicht erinnern, jemals so unter Strom gestanden zu haben. Bisher war er sich seiner Fähigkeiten sicher gewesen, doch wenn er mit dem Rücken zur Wand stand, brachte das nichts. Es ging nicht nur um gewinnen oder verlieren. Nicht einmal im Angesicht des Todes hatte er solche Angst gespürt. Wie ein wilder Hengst klopfte das Herz in seiner Brust. Lediglich seine Schauspielkunst ließ ihn weiter voranschreiten. Er hatte Zuriel ein Versprechen gegeben. Sie würden aus dem Land der Engel entkommen. Koste es, was es wolle.

Als zwei Engel um eine Ecke bogen, setzte Kains Herz einen Schlag aus. Er hielt den Atem an, während er in Gedanken bereits an die Beschwörungsformel seiner Pistolen dachte. Die beiden Engel kamen immer näher und ein erster Schweißtropfen rollte von seiner Stirn. Ohne das Schauspiel fallen zu lassen, rief sich der Auftragsmörder abermals sein Versprechen in den Sinn. Anschließend kam der Gedankengang, dass er die Krähe war und sich nicht vor Candelas Sklaven zu fürchten bräuchte. Seine jahrelange Erfahrung hatte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Nerven gestählt. Es bestand nicht die geringste Möglichkeit, dass irgendwelche Soldaten sie enttarnen würden.

Schließlich kamen sie an den Engeln vorbei. Der Moment schien in der Sanduhr stehenzubleiben, bevor die Spannung brach und das Knistern erlosch. Sie grüßten einander lediglich mit einem stummen Nicken, bevor beide Parteien ihren Weg fortsetzten und kaum verschwanden sie um eine Ecke, atmete Kain erleichtert auf. Sie konnten es schaffen. Eine Flucht war nicht so unmöglich, wie er gedacht hatte. Ganz im Gegenteil, sie war sogar verdammt wahrscheinlich.

»Es funktioniert«, murmelte Zuriel leise und wartete einen Moment, bis die Krähe zu ihm aufgeschlossen hatte. In seiner Stimme bemerkte Kain ein leichtes Zittern. Auch er fühlte sich erleichtert, immerhin wusste man bis zum Umsetzen nicht, ob ein Plan funktionieren würde.

»Das tut es«, brummte Kain. Innerlich hoffte er, dass dem Halbengel seine Unsicherheit verborgen blieb. Durch seine göttliche Herkunft war Zuriel zwar der Stärkere, auch wenn er es nur ungern zugab, aber wenn er seine Furcht bemerkte, würde er ebenfalls verzweifeln. So naiv Zuriel auch war, in diesem Moment war seine Empathie wie ein zweischneidiges Schwert. »Ich habe dir versprochen, dass wir es schaffen, aber nun lass uns weiter.«

Da der Schmied wusste, dass er recht hatte, lenkte er Kain weiterhin durch das Schloss. Unterwegs trafen sie auf weitere Soldaten, doch auch sie schöpften keinen Verdacht. Es könnte nicht besser laufen. Mit jedem Hindernis, das sie überwanden, stieg seine Zuversicht. Selbst Lepha, von der Kain glaubte, sie aus den Augenwinkeln entdeckt zu haben, beachtete sie nicht. Sie hatten den Feind erfolgreich infiltriert. Wenn eine einzelne Wache durch die Gänge schleichen würde, wäre es mit Sicherheit auffälliger, aber da die Engel nicht einmal wussten, dass Zuriel ihr Reich betreten hatte, musste er nicht jeden einzelnen Schritt mehrfach überdenken.

Insgesamt gingen sie etliche Treppen herunter und bogen mehrmals ab. Selbst an dem Zimmer, das Kain zuvor bewohnt hatte, kamen sie vorbei und als er aus den großen Fenstern blickte, erkannte die Krähe, dass sie es bald geschafft hatten. Vielleicht nur noch ein oder zwei Stockwerke und sie könnten aus dem Fenster verschwinden. Bei diesem Gedanken schlich sich ein finsteres Grinsen auf seine Lippen. Die Arroganz der Engel war niedlich. So niedlich, dass Kain beinahe Mitleid bekam. Aber nur beinahe.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt