Kapitel 12.1 - Der Weg zur Erkenntnis

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Der Weg zur Erkenntnis

Zum ersten Mal in seinem Leben wusste Kain nicht, was er tun sollte. Die eine Seite in ihm wollte Zuriel eine Kugel in den Kopf donnern, ihn dafür büßen lassen, dass er ihn bei der Schaffung eines Meisterwerkes unterbrochen hatte, doch der andere Teil wollte seine Situation erklären. Der Schmied sollte den Grund erfahren, warum er nach Lyras Leben gierte und seinen Auftrag unter allen Umständen erfüllen müsste. Allerdings würde keine Erklärung dieser Welt seine Vorhaben rechtfertigen. Letztendlich konnte niemand dasselbe empfinden, wie er es tat. Nicht einmal Zuriel würde seine Passion verstehen. Normalerweise war er die Beleidigungen gewöhnt. Schon immer hatte man ihn als Monster und wertlos bezeichnet, aber irgendwas in seinem zersplitterten Herzen würde schmerzen, wenn diese Worte aus Zuriels Mund kommen würden. Dabei hatte er einst den Schwur abgelegt, keine Gefühle an sich ranzulassen. Nur die Grausamkeit, nach der sich seine dunkle Seele sehnte, nahm er an. Sie wäre die Mauer gewesen, die ihn vor belanglosen Emotionen schützte, allerdings schien es ein Loch in eisernen Festung zu geben. Wann also war er so furchtbar schwach geworden? So schwach, dass es ihm nicht einmal gelang, auf Zuriels Fragen zu antworten.

Erst die Tränen, die wie in einem Wasserfall auf seinen Mantel tropften und das Schluchzen, das sich zu einem herzzerreißenden Schrei wandelte, zogen ihn aus seinen Gedanken. Während Zuriel Kain weiterhin zu Boden drückte, erfasste ein unkontrolliertes Zittern seinen Körper. Wie ein Blitz schien es ihn zu durchfahren, woraufhin sein Körper wie paralysiert wirkte. Obwohl es der Krähe nicht vergönnt war, in seinen Kopf zu sehen, so konnte er sich doch vorstellen, was in dem Schmied vorging. Anscheinend wollte er nicht glauben, dass Kain versucht hatte, Lyra zu töten. Mit ganzer Kraft stemmte er sich dagegen, doch die Realität war unbarmherzig, wie eine Welle, die ihn mit ihren gewaltigen Wassermassen zu Boden drückte. Vermutlich wünschte er sich, dass seine Augen eine Illusion zeigten. Ein Trugbild, das fernab der Wahrheit lag.

»Es stimmte also.« Aus Lyras Stimme war sämtliche Barmherzigkeit entflohen. Stattdessen war sie ebenso kalt, wie das Element, über das sie befehligte. Es wirkte beinahe so, als hätte sie zuvor nur eine Rolle gespielt.

Wie erwartet hatte die Kugel sie nicht getroffen. Selbst ein Streifschuss war ihm nicht vergönnt. Mit anderen Worten hatte Kain auf ganzer Länge versagt, so mischte sich eine dritte Emotion in den Wirbelsturm seiner Gefühle. Es war verletzter Stolz. Er hatte sich für den besten Auftragsmörder gehalten. Die gewissenlose Krähe, die ihr Gefieder im blutroten Lebenssaft ihrer Opfer wusch. Ein majestätischer Vogel, der wusste, wie es war, über Leichen zu gehen. Allerdings schien seine Zeit als Auftragsmörder vorbei zu sein. Von nun an müsste er sein endloses Leben hinter Gittern verbringen. Auch Selbstmord war keine Option. Nur durch eine Flucht könnte er die stählernen Ketten sprengen, die das Schicksal um seine Gelenke legte.

Inzwischen hatte Lyra die wenigen Meter, die sie voneinander getrennt hatten, überbrückt. Dabei zog sie es in einer flüssigen Bewegung ihr Schwert aus der Scheide. Das geformte Eis blitzte verheißungsvoll in der Sonne. Gleichzeitig weiteten sich Kains Augen, bevor er seine Überraschung hinter einer selbstsicheren Fassade versteckte. Er hätte wissen müssen, dass sich im Fall einer Niederlage ihre Klinge in sein Fleisch bohren würde. Möglicherweise war das die Strafe, weil er seine eigene Moral entwickelt hatte.

»Dabei wollten wir es nicht glauben.« Lyras Schwert senkte sich, sodass die Spitze seinen Nacken berührte. Dabei überzog eine Gänsehaut seinen Körper, während ein einzelner Tropfen Blut in Richtung Freiheit entschwand.

Entgegen der Erwartungen seiner Feinde stoppte Kain seine Gegenwehr jedoch nicht. Letztendlich war es egal, ob sie jetzt oder erst unterm Schafott von seiner Unsterblichkeit erfuhren. Zumindest hätte er momentan noch die Möglichkeit zu fliehen, so stemmte er sich mit all seiner Kraft gegen Zuriel, woraufhin sein wutentbrannter Schrei die Lichtung durchzuckte: »Lass mich los!«

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt