Kapitel 19.2 - Unter den Federn

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Das Auftreten des Engels kam so plötzlich, dass Kain nicht rechtzeitig reagieren konnte. Wie angewurzelt stand er in der Mitte des Flurs und starrte den Soldaten mit geweiteten Augen an. Der Schock saß tief in seinen Knochen, so tief, dass er sein Pech kaum fassen konnte. Er hätte nicht damit gerechnet, so schnell auf einen Engel zu treffen. Ob das Knallen der Tür ihn angelockt hatte? Aber warum war er dann alleine gekommen? Dachte er, dass er auch ohne fremde Hilfe mit ihm fertig würde?

Wie töricht.

Ein dunkles Knurren drang aus Kains Kehle, während sein Puls in die Höhe schloss. Erst als er bemerkte, dass der Engel ebenso überrascht schien wie er, fasste er einen logischen Gedanken. Blitzschnell griff er nach einer Fackel, die neben ihm an der Wand hing und sobald er den Holzstab in seinen Händen fühlte, übernahm die Krähe die Kontrolle. Bereitwillig ließ Kain die Zügel los, denn er wusste, dass es der Todesvogel war, welcher in solchen Situationen die Ruhe bewahrte, um den Gegner mit Geschick und Technik auszutricksen. Sofort richtete er das Feuer auf seinen Gegner, sodass sich die Flammen in seiner glänzenden Rüstung widerspiegelten. Ein falscher Schritt und Kain würde sein Gesicht in Brand setzen.

Die Blicke des Auftragsmörders verfinsterten sich, während das altbekannte Rot in seinen Augen erschien. Das Spiel war längst vorbei. Candela hatte beschlossen, ihm den Rücken zuzukehren, also würde er ihr hinterrücks einen Dolch ins Fleisch rammen. Inzwischen war ihm seine Rache egal. Er musste sich auf seine Flucht konzentrieren, doch wenn sie oder ihre Sklaven beschießen würden, sich ihm in den Weg zu stellen, würde er keine Gnade walten lassen. Kain hatte nicht viele Gemeinsamkeiten mit Lepha, Raphael oder Mariel, aber notfalls würde ihm die Bezeichnung Todesengel nicht missfallen.

»Aus dem Weg«, fauchte Kain. Er wagte es nicht einmal zu blinzeln. Seine komplette Aufmerksamkeit galt dem Engel, der zögerlich seine Hände hob. Zwar war dem Auftragsmörder nicht ganz klar, warum er sich ergab, doch auch als seine Lanze scheppernd zu Boden fiel, zog er Fackel nicht zurück. Einmal hatte er den Fehler begangen, einem Engel zu vertrauen und er würde es kein zweites Mal tun.

Mit einem stummen Nicken bedeutete Kain dem Soldaten ein weiteres Mal Platz zu machen, trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck. Stattdessen stammelte er unverständliche Worte, in dessen Chaos Kain glaubte, seinen eigenen Namen zu vernehmen. Es war nur leise gewesen und vielleicht hatte er sich verhört, aber die Art, wie der Engel ihn aussprach, beruhigte ihn. Noch im selben Augenblick verbannte er diesen Gedanken. Warum sollte er sich so fühlen, wenn ein Engel seinen Namen sprach? Mit Sicherheit war das eine Nebenwirkung des Adrenalins, das sein Körper in Unmengen durch seine Adern pumpte.

»Verschwinde«, wiederholte Kain seine Drohung und machte einen Schritt auf den Engel zu. Wie vermutet, wich der Feind zurück, trotzdem machte er keine Anstalten zu Rennen. Aber vielleicht war es auch besser so. Schließlich durfte er seinen Kameraden nicht Bescheid geben, dass es ihm gelungen war, aus seiner Zelle zu entkommen.

Schließlich fasste der Engel all seinen Mut zusammen und öffnete die Augen, die er zuvor aus Angst verschlossen hatte. Durch den Helm war es schwer, sein Gesicht zu erkennen, aber dieser Anblick kam Kain bekannt vor. Zumindest so bekannt, dass sich seine Anspannung etwas lockerte.

Nach einem letzten Zögern sprach der Engel mit sanften Worten, während ein leichtes Zittern seine Stimme untermalte wie die Musik in einem Theaterstück. »Kain. Dir geht es gut.«

Die Irritation wischte dem Auftragsmörder seinen verbitterten Ausdruck vom Gesicht. Vorsichtig senkte er die Fackel und kam aus seiner Abwehrhaltung hervor. Er kannte diese Stimme. Aber woher? Es war so eindeutig und gleichzeitig hielt ihn ein dichter, schwarzer Nebel davon ab, die Wahrheit zu erfahren.

»Wer bist du?«, fragte Kain, während er den Soldaten dabei beobachtete, wie er seinen Helm abnahm. Unter der schweren Rüstung kam braunes Haar zum Vorschein. Ein leichtes Lächeln, gepaart mit treuen Augen.

Die blutrote KräheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt