Ein lautes Scheppern und vereinzelte Rufe weckten Paul auf. Er fror bis auf die Knochen und seine Klamotten waren feucht. Die Sonne war schon seit ein oder zwei Stunden aufgegangen, hatte aber noch keine Wärme entwickelt. Schlotternd kroch er aus dem Gebüsch und blickte auf den Bahnhof. Dort stand eine kleine Diesellok, an die zwei verrottete Pritschenwaggons angekoppelt waren. Ein Typ mit Dreadlocks und Militärhose saß auf dem vorderen Waggon und rauchte, während ein paar Männer in Arbeitskleidung Kisten abluden. Es war vor allem Gemüse: Tomaten, Gurken, Erbsen, aber auch Eier, Brot und eine undefinierbare graue Masse, die in Plastik gewickelt war. Na klar! Das war die Auslieferung einer Organic Farm. Die altmodische Art wie man sich in der Freien Region Brandenburg ernährte. Paul merkte, dass er Hunger hatte und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern, so gut es ging. Dann überquerte die Gleise Richtung Bahnhof und mischte sich unter die Arbeiter. Ein wettergegerbter Mann in groben Leinenklamotten saß an einem Tisch und führte Listen. Wie die Dorfbewohner wohl für die Lebensmittel bezahlen mochten? Er trat auf den Mann zu.
"Hi!"
Der Mann kniff die klaren blauen Augen zusammen und fixierte ihn. Unwillkürlich musste Paul an eine Bierreklame denken. Männlich-herb. Der feuchte Traum einer überzüchteten Interzone-Angestellten. Der Mann mochte Anfang Vierzig sein, genau konnte man das jedoch nicht sagen.
"Hi! Wieviele Kisten, wovon?"
Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen bei Paul fiel.
"Äh ... nein, nein. Ich bin nicht aus dem Dorf ... Ehrlich gesagt, ich ... Ihr hättet nicht zufällig Arbeit für mich?"
Der Mann sah in weiter prüfend an.
"Wo kommst du denn her, wenn du nicht aus dem Dorf bist?"
Paul überlegt. Sollte er die Wahrheit sagen? Besser nicht. Das würde ein Reihe von Fragen aufwerfen, die er lieber nicht beantworten wollte.
"Ich bin aus Pritzwalk. Ist nicht so gut gelaufen für mich in letzter Zeit. Brauch' mal einen Tapetenwechsel."
"Und warum hast du dich dann nicht an eine unserer Vertretungen gewendet?"
Verdammt, die waren ja gut organisiert. Paul versuchte seiner Stimme einen Hauch von Verschlagenheit zu geben.
"Wie gesagt ... ist nicht so gut gelaufen für mich in letzter Zeit."
In den Augen des Mannes blitzte es kurz auf.
"Ich verstehe. Wie ist dein Name?"
"Paul."
Der Mann stand auf und schüttelte ihm die Hand.
"Ich bin Szymon. Setzt dich einfach auf einen der Pritschenwaggons und versuch dich nützlich zu machen. Heute Abend werden wir in der Kommune gemeinsam entscheiden, ob wir Verwendung für dich haben."
Paul atmete auf. Es ging doch irgendwie weiter. Wer weiß, vielleicht würde sich sein Leben tatsächlich zum Positiven verändern. Er würde ein paar Wochen auf der Farm bleiben und dann nach einem Weg suchen wieder in die Interzone zu kommen. Er schlenderte zu dem Dreadlock-Typen und schwang sich auf die Pritsche.
"Du hast nicht zufällig 'ne Kippe, oder?"
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...