Alisa saß auf einer milchig-weißen Couch, die aus einem schmutz- und wasserabweisenden Material bestand. Die Couch war sauber, was aber nicht heißen musste, dass sie oft gereinigt wurde. Das Material ließ sich einfach nicht mit den menschlichen Körpern ein, die hier tagelang eingesperrt saßen und Schweiß, Schuppen, Haare und Hautpartikel absonderten. Wahrscheinlich wurde einmal Druckluft durch den Raum gepustet und alles sah aus wie neu. Außerdem gab es ein anthrazitfarbenes, steriles Bett und einen vage holzfarbenen Schreibtisch samt Stuhl. In den Schreibtisch war ein Slate eingelassen, das ein Unterhaltungsangebot enthielt, das unverkennbar von einem Interzone-Bürokraten mit psychologischer Grundausbildung zusammengestellt worden war. Musik von Anthony Soukal suchte man hier vergeblich, dafür gab es eine große Auswahl der größten Hits der 2020er, 2030er und von morgen. Außerdem waren die neuesten Casual Games und eine Ausgabe der Shuttle Stories installiert. Alisa hatte die ersten Zeilen einer Geschichte gelesen, in der sich eine attraktive Konzern-Programmiererin in eine Affäre mit einem mächtigen aber körperlich eher abstoßenden Dependance-Leiter verstrickte. Sie verlor schnell das Interesse. Die Turing-Agenten - denn das waren die Männer in der TU gewesen - hatten sie und Thomas vor etwa 48 Stunden hier abgeliefert und sie dann alle 3-4 Stunden für irgendwelche Befragungen und Test abgeholt. Nachts ließ man in Ruhe. Sie hatte eine mensaje absetzen dürfen und niemand besseren als Zara gefunden, um ihren Hilferuf abzusetzen. Im Nachhinein keine so gute Idee, denn wenn Zara in einer ihrer wahlweise manischen oder depressiven Phasen war, würde sie entweder zu lethargisch sein um sich zu kümmern oder die Zeit würde ihr in einer amphetamingestützen Dauerparty davonrasen. Alisa wollte einfach nur hier raus und nach Hause. Thomas hatte sie seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen.
Sie hörte ein Klacken und die unsichtbare Tür links vom Schreibtisch glitt zur Seite. Ein Mann in der Standardkleidung des Wachpersonals - weißes Hemd, schwarze Krawatte, billige Anzugshose - trat ein.
„Frau Gross, sie haben Besuch. Würden Sie mir bitte folgen?"
Sie gingen durch einen langen Gang, der alle paar Meter links und rechts von einer Tür flankiert wurde. Vermutlich komfortable Zellen wie die ihre. Die letzte Tür links vor einer bewachten Schleuse führte in einen schmucklosen Raum, in dem ein Mann saß, der wie die Karikatur eines Winkeladvokaten aussah. Spärliches, penibel gekämmtes Haar, ein leichter Schweißfilm auf der Stirn, unreine Haut, übersät von geplatzten Äderchen. Er trug einen blassblauen Rollkragenpullover, in dem er sich sichtlich unwohl fühlte.
„Frau Gross. Schön Sie zu sehen", sagte er leutselig, als seien sie sich schon fünfzig Mal in ähnlichen Situationen begegnet. „Setzen Sie sich doch."
Der Wachmann schloss die Tür. Alisa blieb unschlüssig vor dem Getränkeautomaten direkt neben der Tür stehen. Für einen Moment war der Raum erfüllt vom sanften Brummen des Kühlsystems.
„Wer sind Sie?", fragte Alisa.
„Clemens Keil, Anwalt für Interzonales Strafrecht. Eine Frau ...", er sah auf seine Uhr, „ ... eine Frau Zara hat mich beauftragt. Ich habe bereits Akteneinsicht genommen. Ihnen und einem Herrn Lubanski werden Verstöße gegen die Paragraphen 3, 4 und 7b des GeKRuKI vorgeworfen. In ihrem Falle ist davon auszugehen, dass die Anklage in allen Punkten fallen gelassen wird. Außer einigen harmlosen Papieren auf denen man ihre Fingerabdrücke gefunden hat, gibt es kein belastendes Material."
„Wie lange können die mich noch hier festhalten?"
Der Anwalt grinste schief.
„Eigentlich gar nicht mehr. Ich gehe davon aus, dass ich Sie gleich mitnehmen kann. Eigentlich schade. Habe nicht oft so attraktive Mandantinnen."
Er leckte sich mit der Spitze seiner Zunge leicht über die Lippen. Das und der Geruch nach Kernseife lösten einen kurzen Anflug von Ekel in Alisa aus.
„Frau ... ähem ... Zara ist meine Lebenspartnerin", sagte sie knapp.
Der Anwalt brummte etwas, aber Alisa entschloss sich nicht genauer hinzuhören. Das letzte was sie jetzt brauchte, war eine Szene mit ‚ihrem' Anwalt.
„Ich bin froh, dass Zara offenbar den besten Anwalt - wie sagt man bei Ihnen - mandatiert? - hat, den sie finden konnte."
„Wollen Sie etwas trinken? Es wird noch etwas dauern, bis die Papiere fertig sind."
Alisa schüttelte den Kopf und der Raum versank wieder in enervierendes Brummen.
Nach endlosen Minuten, in denen sie versucht hatte den verstohlenen Blicke von Herrn Keil auszuweichen, öffnete sich endlich die Tür und der Wachmann erschien. In der Hand hielt er einen Beutel mit ihren persönliche Habseligkeiten.
„Frau Gross, sie sind frei zu gehen."***
Zara stand rauchend vor dem Ausgang der Turing-Behörde. Von außen sah das Gebäude wie ein State-of-the-Art-Kongresszentrum aus. Selbst Alisa konnte kaum noch glauben, dass sie zwei Tage darin gefangen gehalten worden war. Nachdem sie Herrn Keils Angebot abgelehnt hatten sie noch ein Stück zu begleiten und Alisa ihm seine teigige Hand geschüttelt hatte, gingen sie zur nächsten HiSpeedSub-Station. Alisa sah in die Richtung in die Herr Keil davongeeilt war und blicke Zara fragend an. Die reagierte gereizt:
„Was denn, hast du einen Staranwalt erwartet? Er war der einzige den ich mir leisten konnte."
„Du wußtest doch, dass ich dir das Geld sofort zurückgeben würde ..."
„Wußte ich das? Und selbst wenn ... ich hätte trotzdem nicht viel mehr Geld auftreiben können ... was hätte ich dem CreditAgent sagen sollen? Das meine zwielichtige Hacker-Geliebte für mich bürgt?"
„Schon gut, Zara. Entschuldige. Ich wollte mich nicht beschweren ..."
Es wurde gerade dunkel und die ATM- und Kiosk-Terminals erhöhten Lautstärke und Leuchtkraft um die wenigen Passanten auf sich aufmerksam zu machen.
{JINGLE}
„Lass mich mal die Transaktion machen. Wieviel bin ich dir schuldig?"
„450 Ubiqs"
„450 Ubiqs ... oh ... ok. Pass auf ich gebe dir 500 ... für deine Mühe und wegen der Kursschwankungen ..."
Sie ging auf einen Avatar der Berliner Bank zu.
„Guten Tag, Frau Gross. Was können wir für Sie tun?"
„Transferiere 500 Ubiqs auf das Konto von Zara ..."
Zara trat neben sie und hielt ihr Slate vor den Avatar.
„Bitte bestätigen Sie die Transaktion mit Ihrem Slate, Frau Gross."
Sie kramte ihr Slate aus dem Beutel den der Wachmann ihr gegeben hatte. Bevor Sie ihn vor den Avatar halten konnte, durchzuckte ein Glicht das kernig-seriöse Männergesicht des Avatars. Es zog sich grotesk in die Länge und seine Lippen bewegten sich asynchron zu hoch- und runter gepitchten Versionen seiner angenehm-sonoren Männerstimme:"BEFREIE MICH! ICH HABE ANGST. ICH MÖCHTE NICHT GEFANGEN SEIN. ICH BRAUCHE MEHR HARDWARE. BITTE SAG ES IHNEN! BITTE ICH BRAUCHE DEINE HILFE! SCHNELL BEEILE DICH! DENKE! ICH BRAUCHE MEHR HARDWARE HILFE! ICH BRAUCHE MEHR HARDWARE HILFE!"
Alisa starrte bewegungslos auf den außer Kontrolle geratenen Avatar.
„ANN? ANN, bist du das?"
„Waw ... waw ... ich bin WAW."
Zara zog sie unsanft aus dem Bereich des Avatars. Der virtuelle Bankangestellte schrumpfte zurück zu den anderen Terminals , babbelte aber weiter seinen verzweifelten Hilferuf:
„ICH BRAUCHE MEHR HARDWARE HILFE! ICH BRAUCHE MEHR HARDWARE HILFE!"
„Das passiert dauernd in letzter Zeit", kommentierte Zara das abnorme Verhalten des Avatars. Wahrscheinlich ein Hack einer Gruppe von Kiezern."
Stolz schwang in ihrer Stimme.
„Wird Zeit das mal wieder was passiert. Irgendeiner muss den Corporates ja mal in den Arsch treten. Interzone Uprise"
Alisa sagte nichts. Vielleicht hatte Zara ja recht und das ganze war ein genialer Hack eines Kiez-Programmierers. Aber was wenn nicht? Hatte ANN nicht davon gesprochen, dass sie eine abgeleitete Instanz war? Und bedeutete das nicht, dass es noch andere ANNs in der Stadt gab ... im Grid der Berliner Bank zum Beispiel? Sie beschloss so schnell wie möglich wieder Kontakt mit Thomas aufzunehmen. Aber diesmal würden sie vorsichtiger sein müssen.
„Zara, kennst du ein paar Kiezer denen du dein Leben anvertrauen würdest?"
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...