Liebe Ann! Gestern habe ich geschrieben, dass wir Menschen unsere Wahrnehmungsapparate erweitert haben, durch Satelliten, Glasfaserkabel und die darüber gebildeten Netzwerke. Dies war die Fortsetzung einer Tradition, die damit begonnen hatte, als der erste homo sapiens sich auf die Schultern eines anderen gesetzt hat. Evolutionsbiologisch sind wir eigentlich immer noch dort. Und wenn der historische homo sapiens über den nächsten Busch spähen konnte – und mit der von dort empfangenen Information hinreichend beschäftigt war – so waren wir auch 2042 noch mit dem Blick auf einen Screen oder in die Virtuelle Realität hinreichend beschäftigt. Was auch immer von dort auf unsere Augen und Ohren einströmte, traf auf dieselben synaptischen Strukturen. Wir ordneten komplexe Informationen nach Priorität und da war nicht viel Überraschendes: Fortpflanzung, Ernährung, Überleben, Sicherung des Territoriums, sozialer Aufstieg. So konnte ein neutraler Beobachter des Netzes zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Eindruck gewinnen, dass die Welt aus kopulierenden Humanoiden mit einer bestimmten Körperform bestand. Dies war soweit in Ordnung, als dass unser Realitätsbegriff stabil war. Was wir auf der Straße, auf der Arbeit und in unseren Beziehungen sahen, war anders. Wir sagten: Normal. Aber der Druck wurde größer. Je mehr Zeit wir mit der Erforschung unseres erweiterten Wahrnehmungsapparates verbrachten, desto mehr versuchte wir das zu imitieren, was andere Menschen an anderen Orten zuvor hineingelegt hatte. Wir wussten a priori was wir sehen würden, bevor wir es suchten. Und desto mehr Algorithmen uns die Arbeit abnahmen, desto mehr lebte jeder in der Welt, in der er leben wollte: Für den dysfunktionalen Feld-, Wald- und Wiesenfaschisten war die Welt voller bedrohlicher Ethnien, die ihm an den Kragen wollten. Für den Fashion-Hipster bestand die Welt aus den Plätzen und Prachtalleen europäischer Hauptstädte, selbst als diese schon nicht mehr existierten. Wenn ich 2042 zum Urbanen Zentrum Potsdamer Platz fuhr, dann sah ich Wohnblocks und Werbeanzeigen. Und doch glaubten die Menschen, dass sie ein vollständiges Bild ihrer Geschichte in sich trugen. Jeder hatte schonmal einen Dinosaurier gesehen, einen Neandertaler, einen Barbaren und einen Ritter. Dass die Ritter aussahen wie heutige Rasierwasser-Models, das reflektierten nur die wenigsten von uns. Und als die ersten Bilder der verkehrten Welt die Netzwerke fluteten, da konnten nur wenige in der Realität nachsehen und überprüfen, was sie dort sahen. Die Realität war – so stellten viele schockiert fest – gar nicht mehr da. Der Zugang zur Realität war limitiert. Da vieles auch unerträglich war – wie die Siedlungen der Unbeschäftigten - wurde die Realität kurzerhand einfach negiert. Die Philosophen besannen sich auf den Idealismus: Es gäbe sowieso keinen Königsweg zur Realität, dies sei schon aufgrund der Struktur unserer Gedankenwelt unmöglich. Mindestens sei es sinnlos über ein Ding-an-Sich nachzudenken, da es im Moment des Nachdenkens darüber schon eine Repräsentation im Gehirn sei. Natürlich kannten die meisten Menschen nicht die philosophischen Diskurse, aber das demonstriert vielleicht, wie auch unsere besten Individuen nach und nach vor der Allgegenwart der Images kapitulierten. Und die Wissenschaften? Unsere einstiger Königsweg zur Realität? Die Naturwissenschaften wandten sich dem Wabern der Quarks und Strings, dem Tanz der Moleküle zu, der auf ihrem Screen stattfand. Sie fütterten die Computer mit Elektronenrauschen und Laserblitzen und verloren sich in der Unendlichkeit zwischen den Entitäten. Die Geisteswissenschaften? Physische Textdokumente gab es nur noch in den Museen, die ein Tummelplatz der Privilegierten waren. Dort lagen sie – die Dokumente – hinter Plexiglas und mussten geglaubt werden. Aber wir Menschen - uns gab es doch? Uns gibt es immer noch! Ich weiß, das ich existiere, wenn ich mir auch nicht sicher bin, ob ich gestern schon existiert habe. Ich erinnere mich daran. Aber ich erinnere mich an so vieles. Und an eines erinnere ich mich gerne: An den Tag, an dem ich das erste Mal gespürt habe, das es euch in meinem Leben gibt.
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Welt 3
Bilim Kurgu2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...