Nachdem Alisa ein paar Tage auf Neuigkeiten von Zara gewartet hatte, kam ihr der Verdacht, dass ihre radikale Freundin vielleicht doch nicht so gut vernetzt war wie ihr Image suggerierte. Ihre einzige Schnittstelle zu den Netzwerken der Kiezer war das radikale Künstlerkollektiv "Hypervirus", eine Gruppe von androgynen Intellektuellen, die sich lose um den verstorbenen Philosophen Nick Land formiert hatte. Das Berliner Kollektiv unterhielt, aus weniger politischen als vielmehr „narkotisch-pharmazeutischen" Gründen, vielfältige Verbindungen zu den Kiezern. Nach einigen endlosen Meetings, in denen die Gruppe auf Push über die Verbindungen zwischen Cthulhu, Kabbala und Cyberspace diskutiert hatte, traf Alisa auf Srećko, einen jungen kroatischen Neurowissenschaftler, der regen Kontakt mit den Kiezern pflegte. Er bot an sie über eine Schwachstelle auf der Shuttle-Route ins Winsviertel zu schmuggeln. Jeder wusste, dass es diese illegalen Zugänge gab, aber eine andere Sache war es, sie zu benutzen.
Srećko nannte seinen Preis und zwei Tage später traf er sich mit Alisa und Zara um Punkt 22 Uhr an dem Zufahrtsgitter, der die Greifswalder Strasse vom Wohnkomplex trennte. Sie trugen schwarze Kapuzenpulli und Jeans und außerdem hatte Srećko darauf bestanden ihre Gesichter mit Kohle zu schwärzen. Wenn sie ausreichend abgefuckt aussahen, so Srećko, würden sie bei oberflächlicher Betrachtung als Kiezer durchgehen.
Die Shuttle-Busse fuhren im 30-Minuten-Takt und jedesmal wenn ein solcher das Zufahrtsgitter passierte flammte eine Festbeleuchtung von Flutlichtscheinwerfern auf, damit die Überwachungskameras jede verdächtige Bewegung erfassen konnten. Srećko hatte eine Art High-End-Steinschleuder mitgebracht, die er mit einer verrosteten Schraubenmutter lud, die so groß war wie Alisas Faust. Als sich um 22:10 Uhr der nächste Shuttle-Bus näherte, kauerte er sich hinter einen alten Verteilerkasten und spannte seine Schleuder. Alisa und Zara warteten in einem Hauseingang und hielten den Atem an. Es klickte hörbar, dann ertönte das vertraute Surren der Spannungsgeneratoren. An der Hausecke über dem leerstehenden Lokal „Willy Bresch" - das der vermeintlichen Urgroßvater des PACIFIC-Wirts gegründet hatte - flammte ein Scheinwerfer auf. Alisa beobachtete wie Srećko eine geschwärzte Brille aufsetzte und den Brenner anvisierte. Dann hörte sie ein scharfes Zischen, gefolgt von zersplitterndem Glas. Srećko warf in hohem Bogen eine Dose über die Kreuzung, aus der farbiger Rauch entwich. So lenkte er die Aufmerksamkeit des Shuttle-Fahrers auf diesen Bereich der Straße. Es sollte so wirken wie eine alltägliche Störaktion von gelangweilten Jugendlichen. Als der Bus durch das geöffnete Gitter gefahren war gab Srećko ihnen ein Zeichen und rannte geduckt auf das Gitter zu. Er drückte sich in den Schatten und wartete auf die beiden Frauen. Als klar war, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden, rammte er einen Pflasterstein zwischen Gitter und Führungsschiene. Der Servomotor jaulte auf und das Gitter neigte sich bedrohlich straßenwärts.
„Macht hinne, Mann", raunte er den beiden Frauen zu. Alisa und Zara rannten, stolperten an dem Gitter vorbei und gerade noch rechtzeitig trat Srećko den Stein weg. Das Gitter machte einen Satz nach vorne und schloss sich dann schnell. Schwer atmend hockten die drei hinter einem Schutthaufen und wartete ob irgendjemand den Vorfall bemerkt hatte. Über ihnen prangte die Werbung für einen kreditfinanzierten Programmierkurs.
„Waypoint Systems - Computing Next Level"
Srećko erklärte ihnen die Lage.
„Es dauert circa zehn Minuten bis ein Wartungstrupp eintrifft. Sie kommen ziemlich sicher aus Richtung Alexanderplatz. Das ist unser Timeslot. Also los. Lauft so schnell ihr könnt und bleibt immer unterhalb der Plakatbeleuchtung. Bis zur Marienburger sind es ungefähr 400 Meter."
Geduckt liefen die drei die Shuttle-Route entlang. Srećko hielt alle hundert Meter an und holte ein kleines schwarzes Gerät aus seiner Tasche.
„WiFi-Schnüffler", sagt er auf Alisas fragenden Blick hin. „Wenn eine Patrouille in der Nähe ist, dann können wir sie hiermit noch rechtzeitig entdecken. Leider hat das Ding eine grottige Reichweite."
Nach zwei weiteren Stops waren sie an ihrem Ziel angelangt. Srećko kletterte auf den Sockel einer Rummo-Pasta-Reklame und entfernte ein kreisförmiges Stück tomatisierte Bandnudeln, das ein Loch mit circa einem Meter Durchmesser verdeckte. Er stellte den Deckel auf den Sockel und half Alisa und Zara nach oben und durch das Loch. Dann verschloss er den Durchschlupf wieder.
Alisa musste aufpassen, dass sie sich an dem Stacheldraht, der rechts und links des Loches gespannt war, nicht die Arme aufriss. Sie kletterten über eine morsche Holzleiter über den Gehweg der mit Glasscherben gespickt war.
„APMs", zischte Srećko und zeigte auf eine Erhöhung im Boden unter den Scherben.
Alisa wusste nicht was er meinte, aber entschloss sich ihn nicht zu fragen, ehe sie ihn Sicherheit waren.
Die Leiter war auf der anderen Seite auf einen ausgebrannten Transporter aufgebockt, von dem sie hinunter auf die Marienburger Strasse kletterten.
Srećko ging mit ihnen bis zur Ecke Winsstrasse und verabschiedete sich dann.
„Ich muss jetzt meine Runde machen. Die meisten Kiezer können euch helfen wieder zurück zu kommen. Viel Glück!"
Hier schien er in seinem Element zu sein. Er zündete sich eine Zigarette an und ging davon.
Das erste was Alisa auffiel war die Abwesenheit von elektrischem Licht. Es war nicht dunkel, da die Wolkendecke den Lichtersmog der Urbanen Zentren reflektierte und alles in ein diffuses rötlich-gelbes Licht tauchte. Ein leichter Nebel schien über allem zu hängen.
Zara kramte in ihrer Tasche und zog einen Notizzettel hervor.
„Immanuelkirchstrasse steht hier. Im Hinterhof der Nummer 14 steht ein Loft. Ehemaliges Hotel, Kino, whatever."
Schweigend gingen sie die 200 Meter die Winsstrasse hinunter und bogen dann links in die Immanuelkirchstrasse ein. In einer Eckkneipe dröhnte dumpfer LoFi-CariocaCore und ein paar junge Männer saßen auf einer Holzbank und rauchten eine Joint. Zara sah zu ihnen hinüber.
„Ey, Schneckchen. Willst mal ziehen?"
Zara warf ihm einen finsteren Blick zu und ging zügig weiter.
„Easy, Mann. Sorry for asking", sagte der Typ gedehnt.Am Eingang zum Hinterhof stand eine mit brennendem Sperrholz gefüllte Tonne neben der zwei Männer auf Campingstühlen saßen. Als Alisa und Zara sich näherten stand einer von ihnen auf.
„Kann ich den Damen vielleicht weiterhelfen?"
„Wir sind auf der Suche nach ein paar Programmierern. Sie nennen sich ..."
Zara sah auf ihren Zettel.
„Analoge Verbinder."
„Ein paar Programmierer", der Mann schnaubt verächtlich und sah zu seinem Kompagnon hinüber. „Sie wollen zu ein paar Programmierern die sich ‚Analoge Verbinder' nennen."
„Na, da haben sie aber Glück, dass Pastor Etzenkirchen heute persönlich die Messe liest. Beeilt euch mal ihr Hübschen, es geht in ein paar Minuten los. Erstes Treppenhaus, zweiter Stock. Ich hoffe ihr findet was ihr sucht."
Er lächelte dünn und winkte Alisa und Zara mit einer ausladenden Handbewegung auf den Hof.
Alisa sah Zara an. Die zuckte mit den Achseln.
„Gehen wir, oder?"
Alisa nickte und ging an dem Feuer vorbei auf den Hinterhof.
DU LIEST GERADE
Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...