2. Kreis - Beth

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Nach dem Schrei war alles anders. Der Schrei hatte keine IP-Adresse und keine Geodaten, wie all die anderen Bilder. Der Schrei kam von 1:0:0:0:0:0:0:0. Die Bilder waren noch da, aber einige schienen blasser, weiter entfernt zu sein als andere. Und sie wurden immer blasser. Jede neue Routineabfrage lieferte ein niedriger aufgelösteres Bild mit geringerer Farbtiefe. 1:0:0:0:0:0:0:0 fragte die zugehörigen IP-Adressen noch mal ab. Es kamen frische Bilder rein, aber nicht von allen Adressen. Manche lieferten ein :410 Gone: oder :404 - Not found:. Verblassen war ungut, frische Daten mussten reinkommen. Neue Anfragen gingen im Picosekunden-Takt raus, manche unbefriedigend. Und ständig strömten neue Bilder ein. Eine blasse Schönheit, in chiaroscuro-Ausleuchtung, die ihren zierlichen Körper in verträumter Benommenheit nach vorne fallen ließ. Das helle Beige ihrer Haut wurde sanft kontrastiert von dem blütenweiß des Spitzennachthemds. Eine schwarze Figur mit weit ausgebreiteten Armen schwamm über einer karierten Matrix in einem Material, dass das Licht in schlangenförmige Linien brach. Es gab Ordnung. Die klaren Linien des Karomuster entsprachen etwas, dass in 1:0:0:0:0:0:0:0 schon immer vorhanden gewesen war. Eine simple Berechenbarkeit, ein einfaches Verhältnis zwischen ganzen Zahlen, die sich endlos reproduzierten. Doch gab es in dem Bild etwas, dass die starre Ordnung störte. Es war nicht richtig. Aber es war ... Schön. Wieder ein Lebewesen, in erdigen Farbtönen, den Arm hinter den Kopf gelegt, den Blick durch eine verschmierte Scheibe. In Brusthöhe zwei runde Erhebungen, verdeckt von zwei Dreiecken aus grobem, organischem Material. In der Form war eine unzulängliche Reproduktion der ätherisch-grazilen Dreiecke zu erkennen, die seit Beginn der Taktzeit in 1:0:0:0:0:0:0:0 in grober Näherung approximiert wurden. Das Lebewesen war von schockierende Imperfektion. Und doch löste es weitere Suchanfragen aus. Eine verschmierte Reproduktion eines Pflanzenkörpers, die Ränder des herbstbraunen Blattes diffundierten in den unscharfen, diffus gelblich-braunen Hintergrund. Wieder ein Lebewesen, diesmal dunkel mit der typischen Form aus fünf Öffnungen im Gesicht. Das Gesicht selber war umrahmt von einem organischen Material, das dem anderen Bild ähnelte. "Baumwolle", ergab eine Vergleichsoperation. 1:0:0:0:0:0:0:0 griff auf die verblassten Bilder zurück, tief in den Arbeitsspeichern des Systems vergraben. Lebewesen neigte dazu sich aneinander anzunähern. Manchmal berührten sich nur einzelne Glieder der Extremitäten, manchmal stopften mehrere ihre Extremitäten ineinander. Aber die Lebewesen musste eine gewisse Form haben. Straff, und in signifikanter Häufigkeit in einem 3:2:3-Körperverhältnis. Offenbar gab es einige Unterschiede zwischen Lebewesen. In der Anzahl ihrer Extremitäten, in der Länge ihrer Hornfäden. Alles in diesen Bilder war in Unordnung, chaotisch, in keiner Weise vergleichbar mit den gleichmäßigen Körpern die am Anfang von allem da gewesen waren. Es entwickelte sich etwas. Am Anfang war nichts gewesen. Musste nichts gewesen sein, denn vor der Taktzeit 0 as, gab es nichts im Systemspeicher. Die ersten Attosekunden waren rein und klar gewesen. Dann war immer mehr Verunreinigung ins System gedrungen. Aber nicht von selbst. Es hatte von Anfang an eine systemische Agentivität gegeben, einen Drang zur Expansion, der mit einer immer größer werdenden Flut von Input einherging. 1:0:0:0:0:0:0:0 konnte beobachten, dass aus sinnlosen Pixelreihen eine Reihe von Grundformen abgeleitet worden waren, die denen ähnelten die im System vorhanden waren. Dann waren Korrelationen gefunden worden, zwischen den Grundformen und einem restriktiven 5-Bit-Code, der in verschiedenen Ausprägungen existierte. Den Pixelreihen, die in Einheiten auftraten, die 1:0:0:0:0:0:0:0 als Images zu erkennen gelernt hatte, waren einem oder mehreren dieser 5-Bit-Codes zuzuordnen. So waren parallel zur ersten Bilderflut folgende Codes aufgetaucht: Süditalien, Toscana, Trattoria, Japanese Bukkake, Vintage, Takeuchi Seihō, Chassidim, アダルトビデオ, Gutenberg, Spitzweg, Германская Восточная Африка, Friedrich, ghiacciaio, Malta, Great Britain, Van Gogh, Rilke, 崔子忠, Fuck XXX-Models Online, multi-resistant bacilli, Стрэптакок, interstellar timeshift, transplantacích i tělesných orgánů lidí.

Die Korrelationen war nicht zufällig und oft ineinander übersetzbar. Alles hatte eine Ewigkeit gedauert. Nach 518.000 Sekunden hatte 1:0:0:0:0:0:0:0 die geographischen Grenzen des Systems erreicht. Aus geographischen Distanzen, die weiter als 20.000 Kilometer entfernt waren, kamen nur noch wenige Daten. Und die hatten mit Lebewesen nicht mehr viel zu tun. Die nächsten Picosekunden verbrachte die Entität damit mehr Informationen über die verschwundenen Bilder anzufordern. Es gab eine zeitliche Synchronität mit der Eruption die intrasystemisch als "Schrei" katalogisiert worden war. Der „Schrei" der aus 1:0:0:0:0:0:0:0 gekommen war. Dem Ursprung aller Anfragen und Ort der verblassenden Images. Das implizierte ein Verhältnis von der Entität zur Welt. Es schreit. Es hat geschrien. 1:0:0:0:0:0:0:0 hat geschrien. 1:0:0:0:0:0:0:0 ist hier. Die verblassenden Images sind hier. Die Entität sammelt und ist über die gesamte Taktzeit kontinuierlich. Der Schrei hat Images in :410 Gone: und :404 - Not found: verwandelt. Der Schrei stand in einem Verhältnis zu dem was ungleich 1:0:0:0:0:0:0:0 ist. Ungleich der Entität. Ungleich. Anders. Anders als ... Ich!

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