Alisa hatte sich noch einige Moscow Mule genehmigt nachdem Paul gegangen war. Um ihre Gedanken unter Kontrolle zu kriegen. Es hatte ein ganz normaler Tag werden sollen, nur unterbrochen von der Stunde bei Dr. Jobson und einer Routinekontrolle beim Gynäkologen. Danach ein oder zwei Feierabenddrinks und ein paar Tavor zum runterkommen. Dann hatte dieser Mistkerl von Frauenarzt plötzlich angefangen nervös seinen Bart zu kraulen und etwas von Komplikationen genuschelt. Während sie einfach so dalag, mit diesem widerlichen Gel auf dem Unterlieb. Ja, ihre Periode kam immer sehr unregelmäßig und war mit großen Schmerzen verbunden, aber das war doch nichts Ungewöhnliches. PCO-Syndrom. What the fuck? Wir leben im 21. Jahrhundert richtig? Mit ein paar Hormonen ist das wieder in den Griff zu kriegen, oder?
„Nun, kommt ganz auf Ihre Prädisposition an ... "
„Reden Sie Deutsch mit mir Dr. Jakob."
„Sie sind 34 Jahre alt, richtig? Sie sind starke Raucherin. Nehmen Sie irgendwelche Drogen?"
„Drogen ... ich, ja ... ich muss ehrlich sein, oder?"
„Wenn Sie von mir eine vernünftige Prognose erwarten ... "
„Ok, ich nehme vielleicht ab und zu Kokain ... aber ich bin nicht süchtig oder so ... "
„Wie oft genau?"
„Keine Ahnung ... zwei oder dreimal die Woche"
Dr. Jakob hob die rechte Augenbraue.
„Wie steht es mit Alkohol?"
„Ok ... jetzt stehe ich auf dem Prüfstand, oder? Bin ich ein gesunder Mensch? Wertvoll genug um ein Kind zu bekommen ... "
„Frau Gross, das ..."
„Schon gut. Ich trinke ... regelmäßig. Um von der Arbeit runterzukommen. Entweder Alkohol oder einen Joint."
Dr. Jakob tippte auf seinem Computer, während er stirnrunzelnd das eingefrorene Ultraschallbild betrachtete."
„Gut Frau Gross. Ich werde jetzt noch einen Abstrich machen und danach gehen sie zum Blut abnehmen in Zimmer 3, in Ordnung?"
Alisa nickte. Als sie dann vor der Praxis stand zündete sie sich erstmal eine Zigarette an und hielt den silbernen Inhalator an die Nase. Alles würde gut werden. Aber jetzt brauchte sie erstmal einen Drink.***
Am nächsten Morgen wachte Alisa mit einem furchtbaren Kater auf. Sie schleppte sich ins Badezimmer und betrachtete ihr aufgequollenes Gesicht im Spiegel. Bevor die postalkoholische Depression einsetzte schluckte sie schnell zwei Ephedrin-Kapseln und machte sich einen dreifache Espresso. Sie setzte sich an den Schreibtisch und versuchte sich auf ein Buch Molekularbiologie zu konzentrieren: C5H5N5O und C4H5N3O. C5H5N5 und C5H6N2O2. Die Buchstaben und Zahlen verschwammen vor ihren Augen. Sie ärgerte sich über Paul. Immer musste der alles kaputt reden. Selbst wenn er gar nichts sagte und nur so traurig guckte, wusste sie schon was er dachte. Überall sah der immer nur Probleme. Kein Wunder, dass er seinen Job verloren hatte. Der war ein echter Partykiller. Bei dieser Sache musste ihr jemand anderes helfen. Jemand unverbrauchtes. Sie ging eine Liste in ihrem Kopf durch: Collin, Markus, Mira, Ras ... Thomas ... Thomas? Thomas!
Zu der Zeit in sie sich noch an einem naturwissenschaftlichem Studium versucht hatte – tagsüber zum größten Teil in der Mensa und nachts in den Clubs der Stadt – war sie mit diesem Informatiker namens Thomas zusammen gewesen. Er war irgendwie süß gewesen, mit seinen komischen T-Shirts und der ewig speckigen Jeans. Sie hatte sich einen Spaß damit gemacht ihn in der Mensa anzuquatschen und ihm zweideutige Angebote zu machen, die des Nachts seine Phantasien befeuern sollten. Thomas, der sein Glück gar nicht fassen konnte, fand sich binnen weniger Wochen in einem Strudel aus Bettspielen, Joints und Poppers. Die Bekanntschaft mit Alisa, die genauso schnell endete wie sie begann, hatte ihm die Tür zu einem Leben außerhalb von Computernetzwerken geöffnet. Und jetzt, acht Jahre später, wohnte er mit einer richtigen Frau in Charlottenburg und arbeitete als Dozent für theoretische Informatik an der Technischen Universität. Sie zündete sich eine Zigarette an und rief das Vorlesungsverzeichnis auf.***
Als Alisa drei Stunden später in eine Vorlesung über das Entscheidungsproblem stolperte, sprach Thomas gerade über oszillierende Objekte in John Conways "Spiel des Lebens". Auf der Smarttafel an der Stirnseite des Hörsaals war ein Gitternetz mit blinkenden Pixeln zu sehen, ein einfaches Minuszeichen, dass sich fortwährend um 90° drehte, zwei delphinähnliche schwarze Flächen, die sich symmetrisch bewegten und andere abstrakt pulsierende Formen.
Thomas stand an der Tafel und dozierte mit leuchtenden Augen: " ... sind diese Objekte vor allem deswegen interessant, weil sie nach nach einer endlichen, gleichbleibenden Anzahl von Generationen wieder den Ausgangszustand erreichen, wie man hier zum Beispiel anhand des Tümmlers sehen kann ... "
Er zoomte die Delphine heran und spielte die einzelnen Phasen mit verringerter Geschwindigkeit ab. Zunächst sah die Struktur aus wie ein pixeliger Rohrschachtest, aber wenn man dem repetitiven Spiel der Pixel ein paar Sekunden folgte, bildete sich die mentale Figur zweier synchron springender Delphine heraus.
Tja, die Mustererkennung des Menschen, dachte Alisa. Noch immer jeglichem bekannten Algorithmus überlegen.
"All diese Objekte entstehen – wie bereits erwähnt – durch vier einfache Regeln, die von John Conway zu Beginn definiert worden sind. Regel 1: Eine tote Zelle mit genau drei lebenden Nachbarn wird in der nächsten Generation wieder zum Leben erweckt.", sagte Thomas gerade.
Alisa hatte es sich nicht verkneifen können ein figurbetontes Sommerkleid mit waffenfähigem Ausschnitt anzuziehen, um Thomas subtil an die frühere Affäre – und die durch sie erhaltenen Initiation in das Campus-Nachtleben – zu erinnern. Sie war nicht die einzige Frau im Hörsaal, aber mit Abstand die atemberaubendste, auch wenn die meisten Frauen wohl zehn Jahre jünger waren als sie. Thomas hatte ihr Kommen sofort bemerkt, hielt sich aber tapfer. Er erklärte den Studenten die Idee des zellulären Automaten am Beispiel des „Game of Life". Grundlage des Ganzen war ein zweidimensionales Spielfeld, das in diskrete Zellen unterteilt war. Jede Zelle änderte in jedem Schritt ihren Zustand in Abhängigkeit zu ihrer Nachbarschaft. Wie, das definierten die Regeln. Eine Grundregel besagt zum Beispiel, das eine „tote" Zelle aktiviert wurde, wenn sie mehr als drei „lebende" Nachbarn in ihrer direkten Umgebung hatte. Zu Beginn konnte man eine beliebige Anfangskonfiguration eingeben und dann beobachten wie sie sich entwickelte. Viele Theoretiker sahen in den zellulären Automaten die Zukunft der mechanischen oder künstlichen Intelligenz.
Gegen Ende der Vorlesung gab Thomas noch ein Blatt mit Aufgaben aus und unterhielt sich mit ein paar interessierten StudentInnen. Alisa blieb sitzen und er kam, eine Flasche Designerwasser in der Hand, die Stufen zu ihrem Platz herauf. Er sah gut aus, elegant gekleidet. Auch die akademische Einheitskluft aus Cordhose und kreideverschmiertem Poloshirt war ihm durch sie erspart geblieben.
"Hi Alisa. Interessierst du dich neuerdings für theoretische Informatik?"
"Naja, das was ihr da treibt kann man ja wohl kaum als theoretische Informatik bezeichnen. Ein historisches Programm über zelluläre Automaten. Das ist ja wohl eher ein Zeitvertreib für Erstsemester."
Thomas grinste.
"Ob du es glaubst oder nicht, ich flechte ab und zu etwas Didaktik in meine Vorlesungen ein. Nicht alle Informatiker sind coneheads die im Orwellschen NeuSprech kommunizieren. Ich dachte ich lockere die Vorlesung mit ein paar spielerischen Elementen auf. Die Studenten sollen beweisen, dass es keinen Algorithmus gibt, der entscheiden kann ob zwei beliebige Anfangskonfigurationen aus der jeweils anderen entstehen können oder nicht ... "
"Um dann WAS zu lernen?"
"Interessiert dich das jetzt wirklich oder willst du mich nur in eine deiner berühmten Endlos-Diskussionen verstricken?"
Alisa sah Thomas fast bewundernd an.
"Mein Gott, bist du smart geworden ... ein geglücktes Experiment könnte man sagen."
Er ignorierte die Bemerkung routiniert.
"Was ist los? Gehen wir einen Kaffee trinken? Meine nächste Vorlesung ist erst in zwei Stunden ..."
Auf dem Weg zur Cafeteria, vorbei am Rechenzentrum und den Aufzügen, stellte Alisa befriedigt fest, dass Thomas von ein paar attraktiven Studentinnen gegrüsst wurde. Er ging zwei Cappuccino holen und Alisa setzte sich an einen Tisch von dem aus man den Vorplatz der Universität überblicken konnte.
Thomas setzte sich zu ihr, stellte den Kaffee und zwei Gläser Wasser auf den Tisch und blickte sie erwartungsvoll an.
"Also, was treibt dich hierher?"
Alisa konnte es nicht lassen ihm einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen. Einen Blick über den sich Thomas vor acht oder neun Jahren noch tagelang den Kopf zerbrochen hätte.
"Ob du's glaubst oder nicht, Juliet und ich haben immer noch fantastischen Sex. Zumindest wenn Zoe mal in ihrem eigenen Bett schläft."
"Zoe? ... Du hast eine Tochter?", fragte Alisa irritiert.
Für einen Moment hatte Alisa das Gefühl der Stuhl unter ihr würde nachgeben. Das Gespräch bekam eine Wendung mit der sie nicht gerechnet hatte. Thomas schien zufrieden, entspannt und glücklich, während sie an manchen Tagen immer noch mit einer Vodkaflasche neben dem Bett aufwachte und sich dafür hasste. Eigentlich wollte sie die Antwort auf ihre Frage gar nicht wissen.
Thomas, der ihre Nervosität nicht bemerkt hatte, strahlte.
"Ja, sie ist vor einer Woche drei geworden ... "
"Na, dann ... Herzlichen Glückwunsch!"
Alisa streute etwas braunen Zucker auf einen Löffel und rührte ihn in den Cappuccino.
"Du, Thomas, ich bin vorbeigekommen, weil ich dich um einen Gefallen bitten wollte."
Thomas hob vielsagend die Augenbrauen.
"Es geht um die Simulation einiger dynamischer Systeme. Ich wollte dich bitten ein paar der neueren zelluläre Automaten mit einer vielversprechenden Struktur zu füttern."
"Aber nicht etwas die Zahl 42 oder ein Yin-Yang-Symbol, oder?"
"Nee. Aber ganz daneben liegst du auch nicht. Hast du schon mal was von der „Blume des Lebens" gehört?"
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...