Paul Madorn war ein typischer Interzone-Bewohner. Trotz längerer Arbeitslosigkeit noch finanziell abgepuffert, befand er sich - wie er tief in seinem Innersten wusste - bereits im freien Fall. Er verdrängte dies durch hektische Betriebsamkeit in den digitalen Netzwerken. Um nicht in seinem engen Apartment hocken zu müssen verbracht er seine Tage in den Cafés des Wohnkomplex „Ernst-Thälmann-Park". Das PACIFIC war eine Cocktail-Bar, die stilistisch irgendwo zwischen einem Edward-Hopper-Gemälde und einer Miami-Vice-Folge oszillierte. 1940/80er-Retro-Crossover. Aus der Hausanlage drang aufdringliche Easy-Listening-Musik. Es klang als hätten sich Dick Dale und Carlos Santana auf Chrystal Meth zu einem „Mein-muckerhaftestes-Endlos-Gitarrensolo-Wettbewerb" verabredet. Die Bar war in blau-violettes Licht getaucht, an der Decke hingen Plastikpalmwedel und die Drinks wurden auf einer quadratischen Cocktailserviette serviert. Im hinteren Teil der vielleicht 50 Quadratmeter großen Bar befand sich eine Sitzecke in die der Betreiber William Bresch seine persönliche Kollektion von elektrischen Wasserfall-Bildern installiert hatte, die Szenen aus Hiroshiges "One Hundred Famous Views Of Edo" paraphrasierten. An einen halbversteckten Cluster aus Mehrfachsteckdosen angeschlossen, erzeugte diese Phalanx ein hartnäckiges Summen, das Paul seltsam beruhigend fand. Er schob das auf die Tatsache, dass er aufgrund der lebenslangen medialen Dauerbeschallung einfach keine richtige Stille ertragen konnte. Er hatte dann immer das Gefühl seine Gedanken würden in rasender Geschwindigkeit nach Außen diffundieren, um die ihn umgebende Leere zu füllen.
Die Peripherie der phasenshiftend blinkenden Plastik-Hiroshiges war auf behagliche Weise medial gesättigt. Herr Bresch stand hinter der Bar und gefiel sich in der selbstironischen Pose des endlos Gläser polierenden Edelkellners. Sein Oberkörper wiegte sich im Takt des mäandernden Gitarren-Gegniedels. Als Paul ihm ein vorsichtiges Zeichen gab, schlenderte Bresch gemütlich zum dem Teil der Theke der Paul am nächsten war und beugte sich leicht vor.
"Moscow Mule mit Adler Berlin, richtig?"
Paul nickte und zog sein Slate aus dem Rucksack. Er fragte seine mensajes ab, löschte die Spam und sortierte die Dinge die ihn momentan nicht interessierten - aber vielleicht später mal interessieren würde - in die entsprechenden Ordner ein. Blogposts, Kommentare, Essays, Analysen, Fotoreportagen, autogenerative Literatur, ephemere Bewegtbildprodukte. Er versuchte sich bildhaft vorzustellen wo zwischen den endlosen Billboard-Zäunen der interzonalen Straßen die Menschen steckten, die zu diesen – sprachlich oft hoch elaborierten – Textwüsten gehörten. Herr Bresch erschien, legte eine quadratische Serviette neben den Laptop und stellte den Moscow Mule darauf.
"Alles klar, Hombre?"
Bresch konnte sich nicht entscheiden ob er in der Binnenwelt seiner Cocktailbar ein Exil-Kubaner oder ein Nachkomme polnischer Einwanderer sein wollte. Das führte zu einem idiosynkratischen Sprachduktus, den die meiste Laufkundschaft erst mit einem unsicher-mitleidigen Lächeln und später mit dauerhafte Abwesenheit quittierte. Dies war ihm offenbar ganz recht. Paul wusste zwar nicht was in den Kisten war, die die zahlreichen Cousins und Schwager von Bresch im Stundentakt rein- und raustrugen, aber der Inhalt war sicher nichts worauf man sich von hippen Zonentouristen gerne ansprechen lassen wollte. Das digitale Proletariat aus den umliegenden Wohnblocks hingegen mochten Bresch. Sie bewunderten ihn für das, was sie "globales Jet-Set-Esperanto" nannten. Man konnte sich einfach so herrlich abgelöst fühlen in der zeitlosen, blau-violetten Parallelwelt des PACIFIC.
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...