Teufelsberg Sky

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Seit dem Anruf von Thomas waren gerade mal zwei Tage vergangen und die Welt war nicht mehr dieselbe wie zuvor. Jeden Tag war Alisas Postfach voller mensajes die Bezug auf Studien und experimentelle Ergebnisse nahmen, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Zunächst hatte sie es für einen gigantischen Hoax gehalten, aber in den Artikeln – die in hochverdienten Journals erschienen – war nicht die Spur von Ironie zu erkennen: Messergebnisse aus Schwarzen Löchern, Konkrete Anwendungsbeispiele für die angeblich seit Jahren bekannte Theorie der Quantengravitation, Fundstück von menschlichen Kulturen die vor 10.000 Jahren untergegangen waren, Gehirnoperationen die Patienten in virtuelle Welten schicken konnten, Philosophische Beweise für die Notwendigkeit der Kontingenz von Allem und Jedem.
Alisa schwirrte schon nach wenigen Minuten der Kopf. Sie entschied, die betreffenden mensajes mit roten Flaggen zu versehen und in einen speziellen Ordner abzulegen. Solange sie niemand konkret darauf ansprach, würde sie die Veröffentlichungen einfach ignorieren. An einer mensaje jedoch blieb ihre Aufmerksamkeit länger gefangen. Der Artikel hieß: Die Veränderung des Sternenhimmels. Es handelte sich dabei um eine Resolution von unabhängig forschenden Astronomen. Sie forderten die staatlichen Observatorien auf, sofort zu den merkwürdigen Ereignissen Stellung zu nehmen, die seit 24 Stunden auf Sternwarten überall auf der Welt beobachtet wurden. Und sie forderten eine sofortige Budgeterhöhung für interstellare Forschungsprogramme. Während Alisa noch über den Sinn dieser Resolution nachdachte, poppte eine neue mensaje in ihrem Postfach auf. Ein Blogger hatte die Meldungen von SETI-Teilnehmern zusammengefasst, die alle behaupteten Hinweise auf außerirdisches Leben entdeckt zu haben. Sie beschloss Markus anzurufen, einen befreundeten Hobbyastronomen. Vielleicht hatte der brauchbare Insiderinformationen.

***

Keine acht Stunden später traf sie Markus an der HiSpeedSub-Station CityCube. Markus hatte einen eigenen Jeep und nahm Kurs auf den Teufelsberg. Ein Trümmerhügel, den die Amerikaner im 20. Jahrhundert dazu benutzt hatte die Deutsche Demokratische Republik auszuspionieren. Weit genug weg von dem Photonensmog der HiFructose- und Protein-Fabriken und dazu noch geographisch exponiert. Seit Jahren rankten sich zahlreiche Mythen um den Teufelsberg. Anscheinend hatte ein mittlerweile verstorbener Filmregisseur den Berg kaufen und dort eine „vedische Friedensuniversität" errichten wollen. Das hatte allerdings nie stattgefunden. Die alte Radaranlage war mittlerweile abgebaut und in der abenteuerlichen Naturkulisse lieferten sich Militärs und Anarchoprimitivisten ein Katz-und-Maus-Spiel.
Der Jeep musste einen großen Bogen um den hochbewachten Radio- und Fernsehsender RIB machen, dessen Studios über das ehemalige Messegelände gewuchert waren. In diesen Studios wurde mit gigantischem Rechen- und Dekorationsaufwand eine tägliche Nachrichtensendung produziert, die den Bewohnern der Interzone ein miefig-intaktes Berlin simulierte, dass es seit über 30 Jahren nicht mehr gab. Da die meisten Zuschauer des Senders ihre Wohnungen nur selten verließen, fiel ihnen gar nicht auf, dass die bürgerliche Mitte, die dort Spreewaldausflüge machte und Puppenkleider schneiderte, schon längst nicht mehr existierte. Als vor ein paar Jahren ein authentischer Beitrag über das Deutsch-Amerikanische Volksfest gesendet wurde, regnete es Beschwerde-Mensajes. Die Zuschauer nahmen an, die dort gezeigte wilde Mischung aus abgerissenen Kiezern, blassen Fettklopsen und multiethnischen Flüchtlingen, sei linke Propaganda.

Von Spandau aus rumpelten Markus und Alisa die Havelchaussee herab und dann quer durch die Postfenn bis zum Teufelssee. Von dort ging es zu Fuß weiter, die Anhöhe hinauf. Während Markus das Teleskop zusammenschraubte, betrachtete Alisa den Sternenhimmel, der in nie dagewesener Pracht leuchtet. Nebelverhangene Flächen aus violetten-orangenen Aureolen, durchbrochen durch eine dicht an dicht gedrängte Masse von grellen Stecknadeln. Es war so hell, dass sie die Farbe von Markus Anorak erkennen konnte. Die Taschenlampen hatten sie – aus Angst vor schießwütigen Soldaten – schon längst ausgeschaltet.
Markus kniete auf dem Boden und hielt ein optisches Gerät in der Hand, dass er an das Teleskop anschraubte.
"Weißt du, es ist nicht so, das die jetzigen Sternbilder unbekannt wären. Aber sie waren bisher nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen. Teilweise noch nicht mal mit Teleskopen. Es ist so, als wenn sich unsere Wahrnehmungsorgane plötzlich verbessert hätten oder ein Schleier vom Himmel gefallen wäre. Aber was mich besonders beunruhigt: Es gibt Phänomene die zu sehen physikalisch schlichtweg unmöglich ist. Kein bekanntes Detektionssystem hat dieses Auflösungsvermögen. Doch sieh selbst ..."
Er beugte sich zurück und war offenbar fertig mit dem Aufbau des Teleskops.
Alisa setzte sich neben ihn auf den Boden und sah durch das Okular. In ihrem Sichtfeld offenbarte sich ein Füllhorn an farbenprächtigen Phänomenen. Sie sah Pulsare, die auf roten und gelben Ellipsen umeinander rasten, wie zwei Vögel im Paarungsritual. Von dem Schauspiel ging eine hellblaue Aureole aus, die einige Millionen Kilometer in den Raum reichen musste. An den Ränder franste das Objekt in grünlich-gelben Eruptionen aus. Markus tippte ihr leicht auf die Schulter und schwenkte das Teleskop um wenige Winkelsekunden auf der horizontalen Achse. Jetzt sah Alisa mitten in die Große Magellansche Wolke. Dunkle Schwaden umhüllten etwas, dass wie ein glühendes Stück Kohle aussah. An einigen Stellen glomm rätselhaftes Licht, ohne klar definierte Quelle. Rechts von dem Kohlenstück funkelten zwei Dutzend Sterne.
"Rechts vom Nebel befindet sich die neugeborene Sterne, die sich aus dem Emissionsnebel befreit haben. So etwas konnte man vor wenigen Tagen nur durch das Hubble-Teleskop sehen. Aber das wirklich merkwürdige: das was du da siehst sind teilweise Phänomene außerhalb des optischen Spektrums. Für gewöhnlich werden sie am Computer mit Falschfarben versehen, um einen intuitiveren Zugang zu ermöglichen."
Alisa sah ihn an.
"Du meinst, dass das was ich da am Himmel sehe ein computergeneriertes Bild ist?"
"Computerbearbeitet", korrigierte er sie.
"Aber wie kann das sein?"
"Keine Ahnung. Es sieht – salopp gesagt – so aus, als habe jemand Computerbilder ausgedruckt und an den Himmel gepappt."

***

Eine halbe Stunde später saßen beide im Schneidersitz neben dem Teleskop, aßen ein paar Proteinriegel und tranken Fructozade.
"Hast du eine halbwegs ernstzunehmende Theorie, wie das alles passiert sein kann?", fragte Alisa.
"Nein, habe ich nicht. Aber etwas anderes ist mir aufgefallen. Ich habe natürlich ein paar professionelle Astronomen kontaktiert und sie darüber befragt. Die meisten haben das Ganze recht nüchtern aufgenommen. Für sie sind diese Visualisierungen ja nichts ungewöhnliches und sie amüsieren sich ohnehin über Spinner wie mich, die noch mit Glasscherben und Metallrohren auf die Hügel klettern um den Himmel zu beobachten. Was soll sich verändert haben?
‚Wahrscheinlich hast du vorher nur nicht genau hingeguckt', hat mir einer sogar gesagt. Wie schon erwähnt: Faktisch hat sich ja nichts geändert. Wir sehen nichts Unbekanntes oder Ungewöhnliches. Und wenn du gewohnt bist den ganzen Tag auf Visualisierungen der Daten von Radioteleskopen zu starren, dann entlocken dir sichtbare Himmelsphänomene offenbar nur ein müdes Gähnen."
Alisa hörte mit offenem Mund zu.
"Das kann ich nicht fassen. Die staatlich besoldeten Professoren sitzen in ihren militärisch bewachten Elfenbeintürmen und finden nichts dabei, wenn sich das gesamte Firmament über Nacht verändert?"
Markus zuckte mit den Schultern.
"Ich denke sie sind einfach nicht zuständig. Das hier ist ja schon eher was für Philosophen und Esoteriker. Soweit da ein Unterschied besteht."
Alisa verzog sauer den Mund. So gerne sie Markus hatte, aber der typische Chauvinismus von Naturwissenschaftlern war oft nur schwer zu ertragen. Als wenn die empirischen Zahlenberge von sich aus ein Weltbild ergeben würden. Wie sagte Heinz von Förster noch in seinem berühmten Interview: "Jedes Teilchen, das wir heute in der Physik haben, ist die Antwort auf eine Frage, die wir nicht beantworten können." Am Ende erfanden sie doch alle nur Geschichten. Die empirischen Forschungen waren so etwas wie die Holzpfähle, auf denen man einen kleinen Steg ins Meer gebaut hatte. Der Ozean war das, was die Philosophie begreifen musste.
Aber es hatte keinen Sinn darüber mit Markus zu diskutieren. Sie würde ihn lieber in eine Falle locken.
"Und du? Hast du eine Theorie?"
"Eine Theorie nicht, aber so etwas wie eine Hypothese ... Ich denke, dass wir die Dinge generell erst wahrnehmen können, wenn wir die richtigen Begriffe gebildet haben. Wenn du einen Menschen in den Wald stellst, der in einem Kellerraum aufgewachsen ist, dann sieht der dort keine Bäume, keine Farne, Ameisenhügel oder Moos. Für ihn sind das grün-braune Flächen, die sich ihm gegenüber indifferent bis feindselig verhalten. Wenn ihm nun ein Lehrer in langen Nächten am Lagerfeuer die menschliche Sprache lehren würde, dann würden sich langsam die Phänomene aus dem Einerlei schälen. Und am Ende ermächtigt er sich des Waldes. Sein Geist hat den Wald abgebildet und jetzt gehört er ihm. Die Idee eines Waldes wird nun immer in ihm sein und er kann mit anderen darüber reden ... Noch radikaler: In gewissem Sinne ist der Wald erst entstanden, nachdem er ihn begriffen hat ..."
„Ich wusste gar nicht, dass in dir ein waschechter Platoniker steckt."
„Auch Wissenschaftler haben ihre schwachen Momente."
Er grinste.
„Ich denke, dass wir in dieser Sache so etwas wie einen Lehrer gehabt haben. Etwas hat uns den Blick auf Dinge eröffnet die vorher verborgen waren. Vielleicht die Wissenschaft als Ganzes? Die zur Materie geronnene Aufklärung? Karl Poppers „Welt 3"? Wer weiß?"
Alisa musste lachen. Markus hatte schon einen ungewöhnlich charmanten Humor. Schade, dass sie bereits in festen, weiblichen Händen war. Sie lehnte sich zurück und bestaunte den frisierten Nachthimmel.

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