Erkenntnis

5 1 0
                                    

Erst am späten Nachmittag erwachte Alisa von ihrem nächtlichen Ausflug zum Teufelsberg. Sie hatte unzusammenhängendes Zeug geträumt. Eine gespenstisch leere Welt, in der die Gegenstände bloße Modelle waren, bestenfalls Konturen, gebildet aus dimensionslosen Linien. Auf allem pappten grobkörnige Indices, Namensschilder in bizarrer Begriffsschrift. Sie wühlte sich aus den verschwitzten Laken, machte sich einen doppelte Espresso und scrollte lustlos durch ihren Posteingang. Das Ausmaß an kuriosen Meldungen aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft hatte weiter zugenommen. Irgendein Irrer hatte - bisher unbemerkt von der philosophischen Fachwelt - ein 1500 Seiten umfassenden Kommentar auf Sartres „Das Sein und das Nichts" verfasst. Alisa überflog den Artikel. Im Wesentlichen lief er darauf hinaus, dass der Autor alle logischen Notwendigkeiten vom Tisch wischte, inklusive des „Satzes vom zureichenden Grund". Daraus folgte, dass es keinerlei Notwendigkeit für die herrschenden physikalischen Gesetze gab und sie genauso gut völlig anders beschaffen sein könnten. Das gefiel Alisa. Wenn dem so war, dann konnte auch der Sternenhimmel von einem Tag auf den anderen sein Aussehen verändern. Eine andere mensaje berichtete von dem Fund eines bisher unbekannten Säugetierskeletts. Wie zuvor versah sie die Meldungen mit roten Flaggen und sortierte sie in den Kuriositätenordner. Dann durchzuckte sie ein Gedanke. Zwei Wörter: Zeitliche Korrelation! Es war fast lächerlich, dass ihr das nicht sofort aufgefallen war. Sie scrollte zurück zur ersten mensaje, die sie mit einer roten Flagge versehen hatte: Quantendekohärenz auf Zellebene beobachtet. Eine absolute Revolution in der theoretischen Physik. Danach kam ein Meer aus roten Flaggen: Die Sache mit den Erntemaschinen, erste Veränderungen am Sternenhimmel und die gleichzeitige Lösung von zwei der Millenium-Probleme der Mathematik. Die erste Meldung war auf den 13. Mai datiert. Wenige Stunden nachdem Thomas ihr gesagt hatte, dass ihre ‚Blume des Lebens' ins Netz gewuchert war. Sofort ließ sie ihren digitalen Assistenten eine Verbindung herstellen. "Thomas. Hi! Hier ist Alisa. Ich weiß. War beschäftigt. Du, gilt die Einladung zum Abendessen noch?"

***

Wenige Stunden später saß sie mit Thomas und seiner bildhübschen Frau Juliet in einer Wohnküche die dem Hipster-Stil der 2010er Jahre nachempfunden war. Eine smarte Wand in Kreidetafel-Optik, auf der eine stetig variierenden Collage von Kinderzeichnungen die frühkünstlerischen Qualitäten der kleinen Zoe demonstrierte, eine mehrere Meter große Arbeitsplatte, vollgestellt mit bunten Einmachgläsern, frischen Kräutern, rohem Fisch und einem gigantischen Smoothie-Mixer. Ein unauffälliger, aber erlesen gefüllter, Weinständer stand mitten im Raum. Unter Zuhilfenahme aller sozialen Reserven schaffte es Alisa zumindest während des Hauptgangs einigermaßen artig zu parlieren. Dann aber unterbrach sie Juliet mitten im Satz um Thomas zu fragen, ob es denn Neuigkeiten in Bezug auf ihre Computersimulation gäbe. Juliet war sichtlich irritiert über die thematisch völlig unzusammenhängende Unterbrechung, besaß aber genug Taktgefühl um sich zurückzuziehen und der Zubereitung des Nachtisches zu widmen. Zoe wuselte dabei zwischen ihren Beinen herum. Alisa beobachtete Juliet. Geduldig ertrug sie die Kaprizen ihrer Tochter, fand sofort die richtigen Worte und verhinderte geschickt die kleinen sich anbahnenden Katastrophen. Das musste eine Menge Kraft kosten. Kraft, die sie, Alisa, lieber in andere, wichtigere Dinge stecken wollte. Sie war wohl nicht dafür gemacht ein Kind zu bekommen. Vielleicht war ihr Körper ja ein bisschen mutiert, ein halber, mißlungener Evolutionsschritt? Der Gedanke erzeugte einen bitteren Nachhall, so dass sie den ersten Teil von dem, was Thomas gerade antwortete, glatt verpasst hatte:
"... dich ja nicht erreicht. Es ist fantastisch. Die digitale Signatur unsere Universität, also das Codefragment unserer Simulation, taucht überall im Netz auf. In allen Interzones der westliche Hemisphäre. Auch in Shanghai und Beijing habe ich was gefunden, in St. Petersburg, Kapstadt und auf ein paar Rogue-Servern in Indien. Die maximale Verbreitung hat der Code vor circa zwei Wochen erreicht, seitdem ist erst die Expansionsrate und dann die absolute Zahl der Reports drastisch zurückgegangen."
"Hast du eine Ahnung warum?", fragte Alisa, die mit einiger Mühe den ursprünglichen Gesprächsfaden wieder aufgenommen hatte.
Thomas grinste schief.
"Nun, das könnte unter anderem mit den dilettantisch getarnten Beamten der Behörde für Zonenschutz zusammenhängen die neuerdings in den Hörsälen rumlungern. Bisher hat mich noch keiner direkt angesprochen, aber ich denke es ist nur noch eine Frage der Zeit."
Alisas Blick schweifte wieder zu Juliet herüber, die gerade damit beschäftigt war ein paar Spielzeuge einzusammeln, die Zoe über die Wohnküche und den angrenzenden Flur verteilt hatte. Da waren Bauklötze, Eisbecher, Sticker und Spielkarten aus thermoplastischer Stärke. Bilderbücher, kleine blecherne Roboter mit glimmenden Drähten auf dem Kopf und stapelweise analoge Papierzeichnungen. Die Spuren eines chaotischen Kleinkinds. Die Artefakte einer erwachenden Intelligenz die sich ihr kleines Biotop eroberte. Wieso konnten die Erwachsenen dieses kreative Chaos, das doch die Basis einer neuen Ordnung war, so schlecht ertragen? Weil sie um jeden Preis ihre alte Ordnung verteidigen wollen.
Den letzte Satz hatte sie wohl weniger gedacht als vielmehr halblaut vor sich hingemurmelt.
"Wer will seine alte Ordnung verteidigen?"
Alisa sah Thomas entgeistert an.
"Na, die Erwachsenen. Die Interzone-Beamten. Die Menschen. Sie räumen auf. Sie kreisen unsere Ann ein."
"Entschuldige Alisa, aber ich kann dir nicht folgen. Wer ist Ann?"
"A-N-N", sie sprach jeden Buchstaben einzeln aus, "oder eben auch Ann. Autonomes neuronales Netzwerk. Die synthetische Intelligenz die wir geschaffen haben."
"Synthetische Intelligenz? Du glaubst wir haben mit unserer Simulation eine künstliche Intelligenz erzeugt?"
In diesem Moment kehrten Juliet und Zoe wieder an den Tisch zurück.
"Papa, was ist eine künstliche Intelligenz?"
Juliet machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Ach, das ist so etwas was Papa auf der Arbeit macht. Sowas mit Computern."
"Papa, hat Konrad eine künstliche Intelligenz?"
Erst jetzt fiel Alisa auf, dass Zoe einen ihrer Spielzeugroboter in der Hand hielt.
"Take me too your feeder! Take me to your feeder!", befahl der Roboter, der eine kleine Gabel in der Hand hielt.
Thomas musste lachen.
"Wer weiß, mein Schatz. Wer weiß schon was in so einem kleinen Roboterschädel vor sich geht."
Juliet schüttelte leicht vorwurfsvoll den Kopf.
"So, ich glaube es ist Zeit, dass du schonmal den Pyjama anziehst, Mäuschen.
"Ich will aber noch Nachtisch. Und Konrad auch", jammerte Zoe.
"Na klar, aber erst Pyjama. In Ordnung?"
Das Kind nickte brav und verschwand im Flur.
„Über was habt ihr geredet? Arbeit?"
Thomas, der nicht wusste, was er sagen sollte, sah erst Alisa und dann seine Frau an.
"Ich glaube Thomas und ich haben ein bisschen zu sehr Zauberlehrling gespielt."
„Zauberlehrling? Was ..."
"Es scheint, wir haben die technologische Singularität kreiert. Nun sollten wir wohl auch die Verantwortung dafür übernehmen."
Thomas nahm die halb volle Weinflasche und schenkte sich einen Großteil davon ein. Alisa fragte Juliet ob sie wohl ausnahmsweise in der Wohnung rauchen dürfte. Die nickte stumm und beschloss die beiden Supergehirne eine Weile alleine zu lassen.

Welt 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt