Kurz nach seiner Rückkehr hatte Paul seinen alten Stammplatz im PACIFIC wieder eingenommen. Herr Bresch hatte ihm erlaubt eine weitere Mehrfachsteckdose an das elektrische Knäuel anzuflanschen um seinen Slate und das KryoBag - das er nun permanent mit sich trug - mit Strom zu versorgen. So brummte und flackerte die exklusive Sammlung der pseudo-japanischen, elektrischen Wasserfall-Bilder munter vor sich hin, während Paul versuchte wach zu bleiben. Er schlief momentan auf der Couch eines der Cousins von Herrn Bresch, da er es nicht riskieren konnte in seine Wohnung zurück zu kehren. Die Gefahr, von irgendwelchen Konzernern oder Interzone-Beamten erwartet zu werden, war zu groß. Bei fast allen seiner Bekannten waren Typen in italienischen Maßanzügen aufgetaucht, die wortlos gerichtliche Anordnungen und blitzende Dienstmarken hochhielten, Slates und Haussysteme konfiszierten und den digitalen Assistenten virtuelle Fußfesseln anlegten. Und das alles innerhalb der letzten vier Tage. Das PACIFIC war sein einziger Rückzugsort.
Szymon hatte ihm leider nichts Genaueres darüber gesagt, was er tun sollte, wenn er es zurück in die Interzone geschafft hatte. Das Stück Datafat, das, gekühlt von flüssigem Stickstoff, in der Kühlbox lag, konnte nur unter Laborbedingungen aufgetaut werden und musste dann schnellstmöglich in einen Wirtskörper eingepflanzt werden. Paul erschauderte bei dem Gedanken das glibberige Stück organischen Gewebes, das er zuletzt auf der Farm gesehen hatte, unter seiner Schädeldecke zu haben. Das zweite Problem war, dass er vorher einen Experten für angewandte Quantenphysik finden musste um das Datafat mit einer Instanz der künstlichen Intelligenz zu verschränken. Er musste nicht erst in seinem digitalen Assistenten nachsehen, um zu wissen, dass derartige Experten nicht zu seinem engeren Bekanntenkreis gehörten. So durchforstete er stoisch das, was vom Netz noch übrig geblieben war, auf der Suche nach einer Eingebung.
Es wurde Nacht und der Lautstärkepegel im PACIFIC stieg. Der sanfte Teppich aus Easy Listening Musik wechselte zu abstrakten elektronischen Klängen und war bei schepperndem TecnoBrega angekommen, als eine aufgeputschte Gruppe von Frauen die Bar betrat. Paul erkannte ein paar Mitglieder von "Hypervirus" und, zum Bestürzen seines übermüdeten Gehirns, Alisa. Arm in Arm mit der dünnen Existentialistin, mit der er sie schon auf der Wohnkomplex-Party gesehen hatte, kurz bevor er die Interzone verlassen hatte. In den Turbulenzen der letzten Wochen hatte er kaum noch an sie gedacht, aber jetzt stand sie plötzlich wieder mitten im Raum. Sie sah ihn, löste sich von ihrer Begleiterin und kam zu ihm hinüber.
"Paul! Gibt's dich auch noch?"
"Offenbar", antwortete Paul trocken.
"Nee, mal ehrlich, wo bist du gewesen? Hast du mitbekommen was hier in den letzten Wochen los war? Ich brenne darauf zu hören, was du von der ganzen Sache hältst."
"Wieso? Macht das einen Unterschied was ich darüber denke? Die Experten im Netz überschlagen sich doch mit Expertisen."
Alisa verzog das Gesicht.
"Dem Zeug kannst du doch nicht trauen. Das Meiste davon ist Desinformation und Bullshit."
"Sagt 'Hypervirus'?"
"Sagt der gesunde Menschenverstand. Apropos ... kennst du eigentlich schon Zara?"
Sie winkte die blasse Frau heran, die sie von der Theke aus beobachtet hatte. Zara zögerte kurz, als hätte sie es gar nicht gesehen und schwenkte dann so beiläufig wie möglich auf einen verfallenden Orbit ein, dessen Endpunkt an ihrem Tisch lag.
Sie sah über Paul und Alisa hinweg auf einen Punkt in der stilisierten japanischen Landschaft der Wasserfall-Bilder.
"Zara, das ist Paul. Hatte ich dir von ihm erzählt?"
"Möglich. Ist das der mit der Computersimulation?"
"Nein, das ist Thomas. Paul ist Ex-Konzerner."
Zaras Gesicht versteinerte.
"Ein Systemscherge. Na toll. Wen willst du mir als nächstes vorstellen? Judas? Hitler? Trotzki?"
Paul beschloss, sich nicht von Alisas arroganter Liebschaft provozieren zu lassen.
"Trotzki? Du hältst Trotzki für einen Verräter? Was für eine Anarchistin bist du denn?"
Alisa musste lachen, woraufhin sich Zaras Gesicht weiter verfinsterte. Sie steckte sich eine Zigarette an.
"Whatever! Ein weiterer Nerd, mit dem du dich über ANN unterhalten kannst. Gähn! Ich geh dann mal Spaß haben ..."
Sie sah Paul an, der neben seiner Kühlbox hockte und - unrasiert und übermüdet - wahrlich kein erquickliches Bild abgab.
"Get A Life!", sagte sie, warf Alisa einen eiskalten Blick zu und kehrte zurück zu ihrer Gruppe.
"Sympathisch", sagte Paul düster. Alisa zuckte nur mit den Schultern.
„Also, zurück zum Thema. Wo hast du in den letzten Wochen gesteckt."
„Lange Geschichte. Ich war in der FRB. Habe da was für meinen Vater erledigt, aber ..."
„Du warst in der FRB? Da kommt man doch nur mit Sondergenehmigung rein. Aber klar, arbeitet dein Vater nicht für Ludicorp?"
„Nicht mehr ... Hör mal, Alisa, ich will nicht unfreundlich erscheinen, aber im Moment habe ich andere Sorgen. Ich kann nicht in meine Wohnung, gegen meine Freunde wird ermittelt und dann soll ich auch noch einen Experten für Quantenphysik finden."
„Einen Experten für Quantenphysik. Wieso das denn?"
Paul blickte Alisa lange an.
„Kann ich dir vertrauen? Ich meine, wir kennen uns jetzt schon ein paar Jahre und du stehst doch auf der richtigen Seite."
Er zeigt auf die Hypervirus-Frauen, die gerade einen neongrünen Shot mit Goldblättern hinunterstürzten.
„Paul, ich habe selber einiges durchgemacht in der letzten Woche. Experimente mit einer künstlichen Intelligenz. Verhaftet und verhört von der Turing-Polizei. Eine Messe mit den Analogen Verbindern."
Bei der Erwähnung der Analogen Verbinder zuckte Paul zusammen.
„Die Analogen Verbinder. Pastor Etzenkirchen. Diese Spinner hätten beinahe meine Mutter umgebracht!"
Er machte eine kurze Pause, entschied sich dann aber nicht weiter ins Detail zu gehen.
„Paul, warum erzählst du mir nicht in Ruhe, was passiert ist."
Paul winkte Bresch heran und bestellte einen doppelten Adler Berlin+ und ein großes Bier.
„Na dann, halt dich mal fest ..."***
Nachdem Paul mit seiner Geschichte fertig war, in deren Verlauf Alisa mehrfach nervös durch den Raum geblickt und sich eine Zigarette nach der anderen angezündet hatte, sagte er: „Na und jetzt soll ich für die wwoofer ein Stück Datafat verpflanzen lassen."
Alisa erstarrte.
„So nennen die wwoofer dieses ominöse organische Gewebe? Datafat? - Paul, was wenn ich dir sagen würde, dass er der einzige Mensch in der Interzone, der dir mit deinem Datafat weiterhelfen kann, Pastor Etzenkirchen heißt?"
Paul hatte das Gefühl, als löse sich die Kulisse des PACIFIC um ihn herum in ein zusammenhangloses Pixelmeer auf. Die Hiroshige-Replikas schwirrten in verwirrenden Kaleidoskopien vor seinen Augen während er einen pechschwarzen digitalen Abgrund hinabstürzte. Er versuchte aufzustehen, griff impulsiv nach dem KryoBag und sackte dann wieder auf das Polster zurück, als ihm seine Beine den Dienst versagten.
Alisa fing ihn auf, setzte ihn zurück auf die Bank, griff sie zu ihrem Slate und rief Pastor Etzenkirchen an.
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...