Interzone Transfer

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Paul überließ es seinem digitalen Assistenten eine Route zum BER zusammen zu stellen, die gleichermaßen günstig, ungefährlich und schnell war. Erst einen Shuttle Bus zum nächsten urbanen Zentrum am Alexanderplatz und von dort mit einem unterirdischen Hochgeschwindigkeitszug durch Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln. In Adlershof würde ein bewaffneter Jeep Konvoi starten, der ihn dann in Richtung Schönefeld und BER bringen würde. Berlin war in den letzten zehn Jahren von den GMO-Konzernen in riesige Parzellen aufgeteilt worden in denen Mais, Roggen und Weizen angebaut wurde. Die Arbeit geschah weitgehend automatisiert mit Hilfe von sogenannten Roundup-Erntemaschinen. Dazwischen befanden sich wilde Kieze in denen arbeitslose Menschen zusammengepfercht in Containersiedlungen wohnten. Dort verkehrten zerbeulte Militärtransporter, deren Fahrer sich in einem kugelsicheren Käfig befand, der sich im Ernstfall heraussprengen und als autonome Einheit bewegen ließ. Eine Fahrt die Danziger, Petersburger und Warschauer Strasse entlang zum Adlergestell kostet praktisch nichts, dauerte aber einen halben Tag, da der Bus an einem Dutzend Checkpoints anhalten und um ausgebrannte Fahrzeugwracks herum manövrieren musste. Dazu konnte Paul den Blick in die leeren Augen der Arbeitslosen nicht ertragen, die am Strassenrand rumlungerten und Freebase rauchten. So hatte seine Software 100 Bitcoins für die Alexanderplatz - Adlershof HiSpeed-Sub hingeblättert.


In Adlershof stand Paul zusammen mit ein paar anderen Reisenden auf dem ehemaligen Studiogelände und unterhielt sich.
"Die haben ein verficktes Monopol, Mann", erregt sich ein dicker Mann in einem grauen Flanellhemd, auf dessen Nase sich ein Verkehrsnetz von aufgeplatzen Äderchen ausbreitete.
"Lange mache ich das nicht mehr mit. Ich habe meiner Frau versprochen, dass wir nach Leipzig gehen. Dort soll es ganze Straßenabschnitte geben in denen nur Einfamilienhäuser stehen."
Paul fragte sich, wie wohl die Frau dieses Fettklopses aussehen mochte, nickte aber nur resigniert. Alle kannte die Plakate auf den interzonalen Strassen, auf denen für Eigentumswohnungen in Leipzig oder Dresden geworben wurde. Ein Leben ohne Gedränge, mit einer intakten Haustüre, einem kleinen Garten und ohne stündliche Polizeieinsätze. Die typische HiSpeed-Sub-Klientel. Die meisten Bewohner von Interzone Berlin konnten nicht mal davon träumen, ohne sich lächerlich zu machen.
Eine alte Frau ging durch ihre Reihen um Kaugummis und Taschentüchern zu verkaufen, wurde aber von den allermeisten Reisenden ignoriert. Dann öffnete sich scharrend das Tor zum Adlergestell und die Gruppe drängte sich zum Ausgang. Ein Soldat mit heruntergeklapptem Visier prüfte ihre Fahrkarten und Pässe, dann wurden jeweils drei Personen in einen Jeep verfrachtet. Den Beginn des Konvois bildete ein alter Bradley M3A3 Schützenpanzer und am Ende fuhr ein Jeep mit aufgeflanschtem Maschinengewehr. Ein lautes, jaulendes Geräusch verkündete den Aufbruch des Konvois. Die Jeeps setzten sich in Bewegung und fuhren in nervtötend langsamen Tempo die Strasse zum BER hinunter. Hier gab es keine Werbeplakate und keine Zäune um die Blicke der Passagiere auf sich zu lenken. Die Gegend südlich von Adlershof, Rudow, Buckow und Friedrichshagen bis hin zum Spreewald war militärisches Sperrgebiet. Im Netz kursierten wilde Gerüchte, irgendwo zwischen Alieninvasion, Atombombentests und einer polnischen Belagerung, aber was wirklich im Süden von Interzone Berlin abging, das wusste niemand so genau. Der Convoy bog auf der 96a Am Seegraben in Richtung Westen ab. Zu beiden Seiten der Strasse gab es nur gelbliches Gras, Staub und vereinzelt ein paar verdorrte Birken. Dann die obligatorischen Sponsorenzäune, die den Blick auf etwas verdeckte, was man nicht sehen sollte, sei es militärischer oder ökonomischer Natur. Auf dem Bradley saßen zwei Soldaten mit Spezialbrillen, die die Strasse nach Minen absuchten. An einer Stelle hatte jemand ein Lücke in die Sponsorenzäune gesprengt. Zwischen dem langsam verfliegenden Rauch sah man endlose Reihen monokultivierten Mais. Für Paul sahen die Blüten wie wildes Schamhaar aus. Er verzog angeekelt das Gesicht, als ihm eine widerliche Analogie durch den Kopf schoss. Noch ehe er den Blick abwenden konnte flackerte eine Reihe von vakuumverpackten Beuteln mit Ananas, Kokosnuss und Granatapfel der Firma Blue Skies an ihm vorbei. Die Welt war wieder in Ordnung.


Nachdem sie ungefähr einen Kilometer gefahren waren, kamen die meterhohen Zäune des Flughafens in Sicht. Ein Helikopter donnerte über sie hinweg, dann öffneten sich schwerfällig zwei Eisentore hinter denen weitere Spähpanzer standen. Wieder wurden ihre Personalien überprüft und die Gruppe wurde durch einen behelfsmäßigen Tunnel aus Fahrzeugsperren und Tarnnetzen geschleust. Sie fanden sich in einer winzigen Mall wieder, in der Sandwiches und Zeitungen verkauft wurden. Paul war als Kind oft am BER gewesen und erinnerte sich an endlose neonbeleuchtete Gänge, ein buntes Gewirr von Schildern diverser Airlines und Reisebüros, kleine Plazas voller Fast-Food-Ketten und Modegeschäften, omnipräsente Internet-Terminals und kleine Bühnen, auf denen ehemalige Profisportler oder Jazzmusiker kleine Trauben von Menschen unterhielten. Männer in Anzügen waren auf Segways durch die Hallen gerast und alle zehn Sekunde war eine Ansage in Deutsch, Englisch und Spanisch über die Lautsprecher gekommen. Jetzt fühlte man sich wie auf einem Provinzflughafen in Nordkanada. Kaum hatte sich Paul hingesetzt, wurde ihr Flug aufgerufen. Eine erneute Sicherheitskontrolle und dann befand er sich an Bord der 787. Die Fenster waren schwarz, durch eiserne Rolladen verschlossen, die sich erst weit hinter Magdeburg wieder öffnen würden. Diese Tatsache hatte Paul in dem Verdacht bestärkt, dass Polen irgendwas mit der heftigen Militärpräsenz zu tun hatte, die in den letzten zehn Jahren schleichend zu einem Teil ihres Lebens geworden war. Durch die Zeitungen, Fernsehkanäle und Blogs zog sich eine gigantische Spur von offiziellen Desinformationskampagnen, Berichten ausländischer Journalisten und Videos von selbsternannten Aufklärern und Freiheitskämpfern. Jeder glaubte an die Version die seinem Charakter oder Seelenheil am besten entsprach. Für seine Mutter war das zum Beispiel ein weiterer Beweis, dass die digitalen Medien die Menschen verwirrten und in ihr Unglück führten. So hatte sie das zumindest in ihren Videostreams – bei AC-TV – gehört. Zu allen Zeiten, so dachte Paul, waren die Menschen vor der komplexer werdenden Welt in die Hände von irrationalen Heilslehren geflüchtet. Er schloss die Augen und wartete bis das Flugzeug endlich abheben würde.


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