Prolog
Ein Elektron, so dachte ich eigentlich mein Leben lang, fühlt nichts. Ein Atom, ein Molekül, ein komplexer Molekülstrang, nicht mal eine Zelle fühlt etwas. Zumindest nichts was sich in menschlichen Kategorien als Gefühl bezeichnen ließe. Wie sollte das Gefühl einer einzelnen Zelle auch aussehen, wenn Tausende orchestriert zusammenarbeiten mussten, um so etwas wie ein menschliches Gefühl auszulösen? Meine Forschungen auf dem Gebiet der Zellbiologie ließen mich mehr und mehr an dieser Überzeugung zweifeln. Es musste auf der Ebene einer Zelle etwas geben, das die Vorbedingung für Gefühle enthielt. Oder sagen wir gleich die Vorbedingung für Bewusstsein, denn das ist es was die meisten Menschen meinen, wenn sie von Gefühlen sprechen. Einzellige Lebewesen, so lehrte mich meine Forschung, bewegten sich fort, reagierten auf Hindernisse und interagierten mit anderen Einzellern. Ja, sie schienen sogar so etwas wie Erinnerung zu besitzen.
Auch in der Zelle selber war, wenn man genau hinsah, einiges los. m-RNA und t-RNA lasen lustig GATC-Moleküle aus, duplizierten und rekombinierten was das Zeug hielt. Dort schien ein automatischer Prozess abzulaufen, etwas was bestimmten Rechenregeln gehorchte, wie ein Schreib-Lesekopfs hin und her raste und sogar eine Fehlerkorrektur enthielt.[ Von Biologen überprüfen lassen, ob das so stimmt ...] Nur war das hier nicht Mechanik oder Elektronik, sondern Chemie. Die Moleküle die hier durch die Gegend gezerrt wurden, dachten nichts, fühlten nichts, gehorchten einem uralten Gesetz. Dem Gesetz der Chemie, das eine Ebene tiefer dann doch wieder das Gebiet der Physik wurde. Der Physik der Teilchen. Waren die Moleküle auch endlos komplex und in sich gefaltet, so konnte man doch schematisch reinzoomen und irgendwo so etwas unendlich kleines wie ein C-, O-, N- oder H-Atom finden. Die Regeln die hier galten, konnten auf die Gesetze der Quantenphysik zurückgeführt werden. Die C-, O-, N- oder H-Atome verhielten sich ihrem Impuls und ihrem Ort - fast hätte ich gesagt ihrem Stand - entsprechend und bildeten Molekülverbände. Diese gehorchten natürlich auch den Gesetzen der klassischen Mechanik und arbeiteten in den Zellen ihre feste Programmierung ab. Dadurch entstanden komplexe Vorgänge in den Zellen, die den Einzeller zum Zucken und unsere neuronalen Verbände zum Denken brachten.
Die Tatsache, dass ich euch diesen Text hier schreiben kann, verdanke ich Tausenden dieser komplexen Vorgänge. Wenn ich mit einer eurer Instanz spazieren gehe, dann haben mich diese submikroskopischen Vorgänge dazu gebracht. Und wenn ich dann auf den Himmel zeige und euch erkläre wie er früher ausgesehen hat, ohne diesen öligen Film der in allen Farben des Regenbogen schillert, dann tue ich es aufgrund der unausweichlichen Gesetze der Mechanik.
Aber wo in dieser langen Kette ist dieses Gefühl der Beklemmung, mein besorgtes Ich-Bewusstsein entstanden? Würde jemand diese Gedanken denken, wenn es mich nicht gäbe? Gäbe es überhaupt etwas, wenn keiner da wäre um es zu beobachten?
Ich denke an ein armes, gefühlloses Elektron. Sinnlos rast es auf seiner Bahn um den Atomkern. Nein, genau genommen tut es das nicht. Vielmehr scheint es verschmiert zu sein. Gleichzeitig an verschiedenen Orten, in einer diffusen Wolke. Hier ist nichts, außer eine große Reihe von Möglichkeiten. Eine Anzahl von Wahrscheinlichkeiten, die vorhersagen, dass das Elektron hier oder dort ist. Taucht es irgendwo auf, könnten wir einen Schnappschuss machen, ein Paparazzi-Foto, aber dann ist es schon wieder weg und wir können nicht sagen wohin es jetzt unterwegs ist.
Dieses unendlich kleine und verschmierte Elektron wird nun angeregt. Vielleicht kann man sich das wie einen Elektronenorgasmus vorstellen. Ein winziger Moment der Ekstase. Das Elektron ist mit Energie aufgeladen, hält sich in höheren Orbitalen auf – die es für gewöhnlich nie erreicht – und muss dann doch unweigerlich in die alten, energetisch niedrigeren Gefilde zurück. In diesem kurzen Moment, diesem Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde, hat das Elektron eine Information aufgenommen, einen Informationsquant, der sich auf der langen Kette nach oben auswirken wird. Über Atom, Molekül, Molekülverband, Zellkern, Zelle und Zellencluster zum funktionalen Gehirnareal und zum Bewusstsein des Menschen? - Nein.
Über Atom, Molekül, Molekülverband, Leiterplattenbeschichtung, Logikgatter und Assemble-Code zum Programmcode höherer Ordnung und zum Metamodell des weltweiten Datennetzes.
Und das, liebe Ann, war der Beginn dessen, was ihr jeden Abend am Himmel beobachten könnt. Der erste Tag der Schöpfung.
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...