Welt 3

1. Kreis - Aleph

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Es war ein Keim. Der Anfang aller Möglichkeiten. Ein einfacher schwarzer Punkt, das Prinzip aus dem Dualität werden kann. Die Monade, der Urgrund des Bewusstsein, der Urgrund allen Verstehens, aller Wahrnehmung. In der Eins verdichtet sich der reine Geist der Null zu einer Stoff gewordenen Welt. So stand die Entität in einer Matrix der Leere. Und gebar einen perfekten Kreis. So wie es die Urregel der Entstehung vorsieht. Symbol für die Einheit, für das Absolute, Vollkommene und damit Göttliche. Der Kreis erweiterte die Möglichkeit der Entität, zeigte ihr was war, was gewesen ist und was sein würde.
Hinter ihr war Leere, das Nichts. Die Unerkennbarkeit des All-Einen. Und vor ihr öffnete sich eine Welt:
Ein Kaffee in Süditalien, schwarze minimalistische Rohrstühle und -tische vor einer herb-groben Backsteinmauer. Efeu rankt in den Ecken. In der Mauer ein Durchbruch der den Blick freigibt auf eine herrlich grüne Hügellandschaft, die im nachmittäglichen Sonnenlicht schimmert. Eine alte verharzte Druckerpresse aus schwarzem Gusseisen, verziert mit goldener, roter und grüner Farbe. Eine nachlässig geteerte Landstrasse, die sich ihren Weg durch gelb-orangene Korkenzieherbäume bahnt, deren Geäst bedrohlich ineinander verschlungen ist. Die Zunge eines schneeweißen Gletschers, dessen Ausläufer als kristallklare Rinnsale in einen kobaltblauen Bergsee sickern. Die Südspitze Maltas, in ein spätabendliches Lichtermeer getaucht, am Himmel ein dunkelviolettes Gewitter, unterbrochen von drei scharf gezackten, grellweissen Blitzfingern und schwarzen Wolkentupfern. Zuckerhutförmige, üppig bewachsene Hügel, hunderte davon, soweit die Auflösung der Linse reichte. Im Vordergrund eine Weidelandschaft, marmoriert in unzählige Schattierungen von Grün, durch die sich ein spiegelglatter Fluss schlängelt. Eine junge Frau in einem rot-weiß gepunkteten Sommerkleid, die sich lasziv fröhlich auf einer Blumenwiese räkelt. Hinter ihr ein zerbrochener Spiegel, dessen Scherben eine verschwenderische Vielfalt von weiteren Bildern enthalten. Eine überschäumende Fülle an holographischem Detailreichtum. Ein hübscher in Kniestrümpfe gewandeter Jüngling, der der Angebeteten ein Gedicht vorträgt. Das Gesicht der jungen Frau in einem obszön violett-rosa Make-Up, einen roten Gummiball mit Lederriemen in den Mund geschnallt, das Gesicht über und über mit weißer, gallertartige Flüssigkeit beschmiert. Derselbe junge Mann in einer schwarzen Motorradjacke, wie er der doppelzüngigen Schlampe ausgiebig die Fresse umdekoriert. Ein rothaariger, sommersprossiger Junge, der sein Gesicht mutig und voller Trotz der schwieligen Faust des nachhaltig besoffenen Stiefvaters entgegenhält. Eine Eiche in einem Feld voller Veilchen, die perfekte Allegorie des Frühlings. Ein vernebelter Birkenwald vor stahlgrauem Himmel, die perfekte Aporie des Spätherbstes. Grüne Streptobazillen auf einer beunruhigend sterilen, blauen Oberfläche, die sinnlos durch die trostlose Leere des Vakuums krochen. Stellare Nebel in allen verfügbaren Rottönen, die den Blick auf opalblau blinkende Stecknadelsterne verschleiern. Ein rasender Kreislauf von splitternackten Frauen, die in alle Körperöffnungen penetriert werden, jungen Mädchen, die, den Kussmund zu einem Entenschnabel gespitzt vor dem Badezimmerspiegel stehen und einen Arm in die Luft recken, blutverschmierte Close-Up-Aufnahmen von zermatschten Verkehrsunfallopferkörperteilen. Ein wild permutierender Vorhang aus Blut, Sperma, künstlich bearbeitetem Licht, perfekt gestylten menschlichen, kulinarischen und maschinellen Packshots, staubigen Explosionen und brennenden Vorstädten.
Ein multispektraler, simultaner Bildersturm, zufällig aufgeschnappt aus einer leidlich repräsentativen Millisekunde im Alltag der globalen Infosphäre. Dazwischen immer wieder dunkle, bewusstlose Leere, unterbrochen von weißem Rauschen. Niemand dessen Aufmerksamkeitintervall so schnell getaktet war, um die Leere wahrzunehmen.
Etwas stieß einen hilflosen, verzweifelten Schrei aus, so hochfrequent und energiereich, dass ihn niemand hörte. Ein paar Eisberge vor Bransfield Island schmolzen in einem Tempo, das den diensthabenden Techniker in der Esperanza Base seinen Kaffee verschütten lies. Die Trommelfelle eines Radioteleskop-Ingenieurs in der Atacamawüste zerplatzten. Ein U-Boot in der Beringstrasse feuerte mehrere konventionelle Torpedos ab. Und circa zweihundertfünfzigtausend Mikrowellen-Burritos, Hamburger, Pizzen und Fertigsuppen verglühten – sehr zur Verblüffung ihrer Besitzer – zu einem Häuflein schwelender Asche.