Datafat

3 2 0
                                    

Paul saß gelangweilt vor einer Wellblechhütte und säuberte sich mit seinem Armeemesser die Fingernägel. In der mittäglichen Sonne, deren Kraft nur von dem wenige Zentimeter überstehenden Dach gemildert wurde, konnte man nicht viel mehr machen, als rauchen, in der Nase bohren und vor sich hin grübeln. Vielleicht nicht mal grübeln. Seine Gedanken krochen in einem Tempo durchs Gehirn in dem Ahornsirup in Griesbrei einsank und waren von ähnlicher Klarheit. Wem galt nun seine Loyalität? Sollte er jemals in die Interzone zurückkehren, würde ein Leben am Rande des Existenzminimums auf ihn warten und er würde sich überwiegend im Untergrund halten müssen. Auf der Organic Farm hingegen war er Menschen begegnet, die ein ehrenwertes Ziel verfolgten und er hatte Freundschaften geschlossen, die über das hinausgingen was er in Berlin zwischen Light Beer und Kokain an Bekanntschaften pflegte. Hier fühlte er sich gut. Er war irgendwie Clean geworden. Vielleicht stimmte ja das Gerücht, dass sie in der Interzone einer ständigen Dosis von Sedativa ausgesetzt waren. Jedenfalls kam er jetzt ohne die halblegalen Stimulanzien aus, die in der Interzone üblich waren. Ein doppelter Espresso morgens und er war fit für den Tag. In Berlin hatte er konstant an einer Flasche hochkoffeinierter Fructozade genuckelt. Und zu seiner größten Überraschung schien sich da etwas mit der Komiteesekretärin Rebekka anzubahnen. Sie suchte auffällig oft sein Büro auf und erkundigte sich über nebensächliche Dinge. Dann hatte sie ihn eines Tages gefragt ob er mit ihr im See baden gehen wolle. In Pauls Magen rumorte es vor Aufregung. Er hatte ja gesagt. Weniger aus Verwegenheit, als vielmehr aus Mangel an einer plausiblen Ausrede. Und so hatte ihn seine Schüchternheit ausnahmsweise einmal zu einer Verabredung verholfen.

***

Am frühen Abend traf er Rebekka vor der Bürobaracke. Sie strahlte, als sie ihn kommen sah. Ein kurzer Zweifel durchzuckte ihn. Entsprach sie seinen verkorksten Vorstellungen von weiblicher Schönheit? Ihre Haare hatten seit Wochen kein echtens Pflegemittel mehr gesehen und ihr Gesicht war ungeschminkt. Kein nuttiger Kajal, keine aufreizende Wimperntusche, keine rosa Apfelbäckchen. Das Haar wirkte natürlich, aber ein wenig stumpf. Keine Strähnen, kein Glitzer. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, Ledersandalen und eine Handkette aus Perlmutt. Ihre kleinen Brüste erhoben sich deutlich unter dem Kleid, aber fehlte es ihnen nicht ein wenig an Spannkraft? Er ärgerte sich selbst über diese Gedanken. Seine überzogenen Ansprüche gepaart mit krankhafter Schüchternheit hatten ihn in Liebesdingen noch nicht sehr weit gebracht. Wenn ihn Alisa nicht „entdeckt" hätte, wäre er vielleicht immer noch grün hinter den Ohren. Ein Teil von ihm fand die Idee sich mit irgendeiner Frau wirklich zu befassen sogar absurd. Was sollte das denn bringen? Ständig würde er seine Karriereoptionen gegen ihre abwägen müssen, um ein akzeptables Gleichgewicht herzustellen. Rebekka blickte ihn offen und fröhlich an. Er fühlte einen Stich im Herzen. Würde sie seinen kritischen Blick bemerken und würde es sie verletzen? Würde er beim Sex an eines dieser Plakatmodels denken und die Augen fest geschlossen halten? Das dieser Schwimmausflug zu Sex führen würde, schien ihm kurioserweise festzustehen.
"Worauf wartest du? Die Sonne geht in einer Stunde unter", neckte Rebekka ihn fröhlich und rannte in Richtung See. Paul beeilte sich sie einzuholen und verdrängte den störenden Gedanken, dass das hier sich anfühlte wie eine Countrybread-Werbung oder ein schlechter Liebesfilm vom Anfang des Jahrhunderts. Alexandra Maria Lara als moralisch einwandfreie Naturfrau. Rebekka war erstaunlich gut in Form und als Paul am See eintraf, hatte sie bereits ihr Kleid abgestreift und war einige Meter im See gekrault. Paul suchte die Böschung erst einmal nach Käfern, Spinnen und ekligem Algenschlamm ab. Nach drei Wochen auf der Farm war er noch lange kein Naturbursche geworden. Dazu saß die Städterkonditionierung viel zu tief. Ehe er im Wasser war, saß Rebekka schon wieder auf dem Gras und rauchte eine Zigarette. Paul kraulte aus Verlegenheit ein paar Züge und setzte sich dann tropfnass neben Rebekka. Die war vollkommen nackt und genoss sichtlich die laue Sommerluft. Paul fühlte den Drang ihren Venushügel anzustarren und schämte sich dafür. Krampfhaft fixierte er ihr Gesicht. Sie hatte eine beachtliche Intimbehaarung, schien sich aber nichts daraus zu machen. Ihr ging jegliche Künstlichkeit ab. Eine Interzone-Frau hätte sich schon längst dafür entschuldigt, dass sie nicht sauber ausrasiert war oder besorgt auf eine winzige Bauchfalte gezeigt. Rebekka genoss einfach die schiere Präsenz ihres Körpers. Selbst die Ameisen, die auf ihr herumkrabbelten, schienen sie nicht zu stören. Paul überlegte was er sagen sollte, aber Rebekka schien nicht das Bedürfnis nach einem Gespräch zu haben. Stumm rauchte sie vor sich hin und blinzelte in die untergehende Sonne. Dann lehnte sie sich plötzlich zu Paul hinüber und kraulte in seinem Haar. Paul zuckte zusammen und bereute es im selben Moment. Das war nicht erotisch gemeint, sondern eine ganz normale Geste der Körperpflege. Die wwoofer untersuchten sich so wie beiläufig auf Hautveränderungen und Läuse. Es war eine fundamentale Geste der sozialen Gemeinschaft. Paul versuchte sich zu entspannen und ließ es über sich ergehen. Das hier waren eher die unschuldigen Berührungen von Geschwistern, als eine erotische Eröffnung.
Nachdem er mit ihr eine weitere Zigarette geraucht hatte, zog sie ihr Kleid wieder an und fragte ihn, ob sie sich bald auf den Heimweg machen sollten. Zurück auf der Farm gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand. Paul blieb verwirrt zurück.

Welt 3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt