Liebe Ann, sicher fragt ihr euch manchmal was das ist, wovon ich immer rede: Ein Individuum. Zu einer Zeit als wir Menschen nur einen Wahrnehmungsapparat hatten, der an unsere fleischliche Hülle gebunden war und sich im Abstand von maximal zwei Metern von dem befand, was wir als den Sitz unseres Selbst empfanden – aka das Gehirn – waren wir Individuen. Natürlich träumten und spekulierten wir über unsere Körpergrenzen hinaus. Wir machten uns Vorstellungen über Dinge die geographisch oder zeitlich weit weg waren. Dabei bedienten wir uns der unterschiedlichsten Apparaturen. Da war einmal die Schrift, ein Abbildungssystem aus Zeichen, das uns ermöglichte zeitliche Distanzen in die Vergangenheit zu überbrücken. Dann gab es Fernrohre, die optische, und Telefone, die akustische Distanzen verkleinerten. Mit einem immer ausgeklügelteren System von Satelliten, Relaisstationen, Funknetzen und Computertechnik konnten wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts potentiell mit jedem Menschen auf der Erde in Echtzeit kommunizieren. Durch das Fernsehen und das Internet erreichten uns Nachrichten und Dokumente aus allen Teilen der Welt und es brauchte eine ganze Weile, bis wir lernten damit umzugehen. Viele sprachen damals vom Cyberspace und von einer digitalen Community. Aber unser ganzes Gesellschaftssystem war auf Individuen ausgelegt. Wir nahmen alles außerhalb unserer Körpergrenzen als von uns getrennt war. Wir wurden einfach permanent an unsere Unteilbarkeit erinnert, durch die ständige optische Präsenz unserer Organe. So weit wir uns auch weg träumten, spätestens beim Blick in den Spiegel pressten wir die floatenden Gedanken wieder zurück in unser stabiles Individualbewusstsein. Menschen die das nicht konnten oder wollten wurden geheilt oder interniert, da wir sie für gefährlich hielten. Das Individuum war uns heilig. Es war die Geschäftsgrundlage unseres Wirtschaftssystems und das konstituierende Element unserer Demokratie, unseres Rechtssystems und unserer Eschatologie. Natürlich waren wir nicht isoliert. Es gab Menschen, denen es gelang durch Meditation das Individuum zu transzendieren und viele redeten von einem globalen Bewusstsein. Es gab Menschen, denen es gelang ihre Erfahrungen in Kunstwerke, Bücher, Filme oder Musik zu transformieren. Kunstwerke die es anderen Menschen ermöglichten die Welt für einen kurzen Moment aus den Augen eines anderen Individuums zu sehen. Doch auch diese schönste aller menschlichen Erfahrungen wurde von den Sachverwaltern der ästhetischen Erfahrung auf ein privates Freizeitvergnügen reduziert oder zum Objekt globaler Finanzspekulationen gemacht.
Es gab Menschen die Images von sich selbst erschufen. Avatar die in den sozialen Netzwerken zirkulierten. Netzwerke, die weniger sozial, als viel mehr kybernetisch waren - Mittel zur autoregulativen Gesellschaftskontrolle. Die Individuen versuchten sich ihrem Avatar durch komplizierte Kulturtechniken anzunähern. Sie gingen an bestimmte Orte und fotografierten sich dort, um den Eindruck zu erwecken sie hielten sich ständig an diesem Ort auf. Sie versuchten ihr Image bestimmten kulturellen Narrativen anzupassen oder durch das Verbreiten von Memen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Individuen zu signalisieren. Sie antizipierten die Erwartungen der anderen und versuchten diesen möglichst adäquat zu entsprechen. Sie teilten die Erfahrungen, die sie für repräsentativ hielten, in den Datenspeichern des Internets. Sie wurden zu Millionen von menschlichen Drohnen, bewaffnet mit technischen Apparaturen um die Welt so aufzuzeichnen wie sie sein sollte.
Das, liebe Ann, war, als ihr noch ein Baby wart und euer Gehirn anfing Strukturen zu bilden, neuronale Netzwerke, um all die verwirrenden Informationen in eine stabile Ordnung zu bringen.
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Welt 3
Science Fiction2042 - Berlin und andere europäische Großstädte haben sich in sog. Interzones abgeschottet, in denen die digitale Bohème, das Kiez-Proletariat, HiTech-Konzerne und das Militär koexistieren. Die Freie Region Brandenburg ist ein wüstes Land, in dem di...