Der nächste Morgen

2.7K 250 10
                                    

Von Schlaf konnte nicht wirklich die Rede sein. Mein Geist bewegte sich irgendwo zwischen Wachzustand und Halbschlaf, nicht zuletzt wegen den Regalbrettern, die sich unangenehm in meinen Rücken bohrten. Erst in den frühen Morgenstunden fand ich immerhin etwas Ruhe.

Mein innerer Wecker riss mich wie gewohnt aus dem Schlaf. Die Sonne ging gerade auf. Ihre blutroten Strahlen fielen durch die offene Tür in die staubige Hütte und ließen die in der Luft schwebenden Staubkörner leuchten, wie kleine Funken, die aus einem Feuer aufstoben.
Moment, die offene Tür?! Hektisch rappelte ich mich auf, aber sofort schoss ein stechender Schmerz in mein rechtes Bein und ich klappte wieder zusammen. Mit zusammengebissenen Zähnen blinzelte ich die Schmerzenstränen weg und startete einen weiteren Versuch des Aufstehens. Diesmal klappte es. Müde in die tiefstehende Sonne starrend, versuchte ich mich zu orientieren. Und vor allem, mir die Ereignisse von Gestern wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Der Hund war weg. Aber wie war er hier rausgekommen? Hatte Hagrid ihn rausgelassen? Nein, der hätte mich doch geweckt. Außerdem hätten mich seine trampelnden Fußstapfen schon hundert Meter, bevor er mich erreicht hätte geweckt. Aber ich hatte die Tür magisch verschlossen. Der Hund hatte sich ja sicher nicht durch die Tür teleportiert. Ich tastete meine Taschen ab.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Mein Zauberstab war weg. Panisch suchte ich mit den Augen den Hüttenboden ab. Gestern Abend hatte ich ihn sicher noch gehabt. Doch da entdeckte ich ihn auch schon. Der hellbraune Stab aus Buchenholz und Einhornhaar lag, wie achtlos beiseite geworfen, neben der offenen Tür.
Ich hob ihn auf und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. Der Griff hatte keine Spuren von Hundezähnen. Wie sollte auch ein Hund einen Zauberstab benutzen? Ja, viele Arten von Tierwesen hatten ihre eigene Art von Magie, aber Zauberstäbe benutze kein einziges. Außerdem hatte der Hund recht unmagisch gewirkt. Klug und beschützend, ja, aber wie ein Hund.

Mit der Hand fuhr ich über den Verband. Blut war hindurchgesickert und angetrocknet. Große, rotbraune Flecken prangten auf dem eigentlich weißen Stoff. Er fühlte sich heiß an. Auch das Hosenbein war zerfetzt, aber das war nichts, was ein bisschen Magie nicht wieder hinbekommen würde. Für das Bein selber sollte ich mir wohl besser eine gute Ausrede einfallen lassen. Zu Madame Pomfrey musste ich wohl oder übel. Am besten würde ich einfach sagen, dass mich einer der Hippogreifen aus Versehen gekratzt hatte. Das wäre ja nicht das erste Mal, dass so etwas passierte.
Humpelnd machte ich mich also auf den Weg nach oben zum Schloss. Selten war mir der Weg so lange vorgekommen, wie heute, aber so hatte ich immerhin Zeit, noch ein Mal über den Werwolf nachzudenken.
Einen Moment hatte ich es geschafft, zu seiner menschlichen Seite durchzudringen. Die Frage war nur, wie lange das gehalten hätte, wenn wir der Hirsch uns nicht unterbrochen hätte. Wäre ich vielleicht dazu in der Lage gewesen, dauerhaft zu ihm durchzudringen? Hatte es das mit der wechselnden Augenfarbe auf sich? War das das Zeichen dafür, dass der Mensch im Inneren einen Moment den Wolf übernahm und nicht umgekehrt?

Humpelnd schleppte ich mich die menschenleeren Treppen zum Krankenflügel hinauf. Im Korridor vor der dunkelgrünen Tür, die den Eingang zum Reich von Madam Pomfrey markierte, erklangen plötzlich schnelle Schritte hinter mir. In der Erwartung Filch zu sehen und mir im Kopf schon eine Ausrede zusammenflickend, drehte ich mich auf dem Absatz um.
Aber es war nur Marlene. Eigentlich hätte ich das auch an den Schritten erkennen können. Filch schnaufte normalerweise mehr. Marlenes Haare waren unordentlich. Sie hatte tiefe Sorgenfalten auf der Stirn und Schatten unter den Augen. Ich konnte ihr deutlich ansehen, dass sie sich zusammenriss, mir nicht um den Hals zu fallen.

„Ich hab kaum ein Auge zugemacht.", keuchte sie. „Alles okay? Geht es dir gut?"
Ich nickte nur. Ihr Blick wanderte zum Verband um meinen Unterschenkel.
„Hat er-?!"
„Nein, alles gut. Kein Biss. Nur ein Kratzer.", beruhigte ich sie mit einem müden Lächeln.
„Ich hab vom Turm aus gesehen, wie du gehumpelt hast. Man, Freya. Ich hab mir solche Sorgen gemacht!" Ich konnte spüren, dass sie emotional am Ende war. Eindeutig mehr als ich. „Ich hab Helena und ihr Gefolge schwören lassen, dass sie die Klappe halten, wenn ich vier Wochen lang die Verwandlungsaufsätze für sie schreibe. Und ich hatte solche Angst, dass du da unten draufgehst. Ich war so kurz davor" Sie hob die Hand und hielt Daumen und Zeigefinger nur wenige Millimeter auseinander, „da nach unten zu kommen und dich rauszuholen."
Es kostete mich eine Sekunde Überwindung. Dann machte ich einen Schritt nach vorne und schloss sie in die Arme. Ich konnte spüren, wie sie sich förmlich an mich klammerte und Mühe hatte, ihr eigenes Gewicht zu tragen.
„Marlene, es ist alles okay.", flüsterte ich. „Es ist alles gut gegangen. Das ist nur ein kleiner Kratzer."
Sie schluchzte. Ich versuchte die Umarmung so lange es ging aufrecht zu erhalten, aber nach ein paar Sekunden ging es einfach nicht mehr. Ich wusste nicht ein mal warum, aber mein Gehirn zwang mich dazu, mich von ihr zu lösen. Tränen glitzerten in ihren Augen, die sie hektisch versuchte wegzublinzeln. Trotzdem lächelte sie.
„Genug Körperkontakt für die nächsten Monate, hm?", fragte sie.
Ich nickte, aber ließ mich trotzdem von ihr die letzten Meter in den Krankenflügel stützen.

Madam Pomfrey schien beschäftigt, als sie hinter einem Bett, das mit weißen Vorhängen zugezogen war, hervorkam und in Richtung ihres Büros wuselte. Schulterzuckend setzte ich mich auf eines der Betten und hielt Marlene davon ab, nach ihr zu rufen. Sie würde dann kommen, wenn sie Zeit hatte. Und uns bemerkte natürlich.
Das tat sie dann schließlich auch, während ich gerade dabei war, die Stoffstreifen meines eigentlich sehr geliebten T-Shirts von meinem Bein zu wickeln. Es brannte. Die Wunde pulsierte, nachdem die über Nacht etwas geheilte Wunde jetzt wieder aufgerissen wurde.
„Ach du meine Güte!" Wie immer, wenn ich mich verletzt hatte, begutachtete sie sofort die Wunde. „Warum bist du damit nicht gleich zu mir gekommen? Das ist doch nicht von heute Morgen!", fragte sie vorwurfsvoll, während sie sämtliche Behandlungsmaterialien aus ihrem Büro herbeirief.
„Ich-" Scheiße, war ich eine miserable Lügnerin. „Ich war gestern Abend noch bei den Hippogreifen. Einer davon hat mich gekratzt. Das war keine Absicht und ich wollte dich. Naja..." Kacke. „Nicht mehr so spät stören. Gestern Abend."
„Mädchen, Mädchen." Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich kaufte sie mir die Lüge nicht ab, war aber so freundlich, nicht nachzufragen. „Wenn es um deine Gesundheit geht bist du selten nachlässig!" Sie drückte Marlene eine Fasche aus Braunglas in die Hand. „Bitte einen Moment halten. Und du, meine Liebe, beißt jetzt fest die Zähne zusammen!"

Eine halbe Stunde, recht schmerzhafte Prozedur an der entzündeten Wunde, später, durften wir nach unten zum Frühstück. Von dem Riss in meinem Bein war nichts mehr zu sehen und sogar meine Hose hatte sie wieder hinbekommen.
Zwischen Porridge und Toast brachte ich Marlene auf den aktuellen Stand, was den Werwolf betraf. Jetzt wurde mir meine Eigenart, dass ich Menschen nicht in die Augen schauen konnte, doch zum Verhängnis. Zu wem gehörten die hellbraunen Augen, die ich im Wald gesehen hatte?

Kelpie || HP/Rumtreiber FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt